Vom Sein, Schein und Tun - Was führt ans Ziel?
Im letzten Artikel ging es um die Akutfrage: "Was wollt' ich gleich nochmal?" Heute werfe ich sie etwas weiter gefasst in den Ring: "Wer oder was wolltest du eigentlich mal sein?"
Die tolle Krankenschwester?
... allzeit bereit, belastbar, immer ein Lächeln im Gesicht und das Häubchen - aus revolutionstechnischen Gründen - in der Tonne? Deine Patienten ins Glücklichgesunde gerettet? Respektiert von den Ärzten? Familie und Haushalt im Griff? Nach Bügelspray duftend, a saubers Madel mit stets (!) frisch desinfizierten Händen?
Du weißt ja als Gesundheits-und Krankenpflegerin, wie's geht...
Der Heilpraktiker / die Heilpraktikerin?
... deinen Klienten immer wohlwollend zugewandt? In der eigenen, hübsch und gemütlich eingerichteten Praxis? Dein Terminkalender natürlich voll mit zufriedenen, forsch in Richtung Gesundung schreitenden Patienten? In Folge dein Bankkonto sich füllend mit ebenso glücklichem Geld? Die Zustände (Missstände?) im Pharma- und schulmedizinischen Bereich voll durchblickend? Dazu Alternativen bietend? Deine Work-Life-Balance perfekt ausgeglichen? Du weißt ja, wie's geht...
Die begehrte Tanguera?
Der Tangolehrer?
Die gute Mutter?
Der beste Vater?
Die anerkannte Verlagsautorin?
Der Weltenbummler?
Der freigeistige Künstler?
Der rebellisch-bloggende Underdog?
...
Selbstverwirklichung?
Und dann öffnest du den Kühlschrank, um Milch in deinen Kaffe zu gießen. Anstatt wie für das Wunschbild eines Küchengeräts frisch-kühl zu blitzen, stinkt er dir deine nächste Aufgabe entgegen: Putz mich! Sofort!Während ich beinharte, schwitzende Käsereste entsorge, mich über den möglichen Seinszustand einer vergessenen Tomate wundere und das Innere mit Essigreiniger auswasche, sorge ich mich über den ordentlichen Fortgang meiner Selbstverwirklichung. Eigentlich wäre ja heute "aufklärende Bloggerin" dran gewesen... Und wie passt der ganze Dreck zum Bild der "sauberen Krankenschwester", die für morgen gebucht ist? Oder zur "Freelancerin", die sich ja eigentlich eine Putzperle leisten sollte?
Die Ratgeber sagen...
man solle sich doch bitteschön ein realistisches Zielbild visualisieren, sich vorstellen, wie man sich dann fühlt etc., wenn man dann XY ist, also sich in eine Wunschzukunft versetzen. Anschließend gehe man dann schrittweise in der Zeitlinie rückwärts, um herauszufinden, wie man den gewünschten Zustand erreicht hat. Mit dem Ziel, das Ziel zu erreichen.Gut und schön.
Erfahrungsgemäß hat diese Methode aber Haken:
Die Erkennbarkeit
Willst etwas sein, einem Bild entsprechen, bedeutet das erstmal eines: viel Arbeit!
Du musst dir bestimmte Accessoires zulegen - in deinem Erscheinungsbild, deinem Verhalten, sogar in deinen Meinungen - als Beweis, dass du nun wirklich XY wirst oder schon bist.
Ob du damit für dich selbst oder für eine Gruppe erkennbar wirst, der Aufwand bleibt. Stetiges Changieren, Abwägen, Nachjustieren zieht viel Energie. Vielleicht musst du dir zusätzlich zu den ungeimpften Kindern, den unbequemen Glitziglänz-Peeptoes auch noch eine Laktoseunverträglichkeit zulegen? Fragen über Fragen....
Der Vergleich mit anderen
fällt da natürlich leicht - auch die Erkenntnis, dass andere immer erfolgreicher, besser sind. Ein zuverlässiger Weg, unglücklich zu werden.
Die Gruppenidentität
Was du bist und ob das richtig für dich ist, bestimmt oft die Gesellschaft, in der du dich bewegst, anhand einiger weniger Kriterien. Ist die so erhaltene Identität dann deine eigene?
Muss ich...
- als Heilpraktiker von Homöopathie überzeugt sein, reflexartig "Darmsanierung" und "Impfschäden" rufen?
- als Krankenschwester chronisch genervt und völlig überlastet zu sein?
- als Tangotänzerin meinen Musikgeschmack einschränken?
- als Mutter alle Kinder süß finden?
- als Illustratorin die Finger vom Schreiben lassen?
- als Selbstständige über die Steuer schimpfen?
- als Geschiedene zur männerhassenden Furie mutieren?
- als reflektierte Fuffzigerin vegan werden?
Muss ich mich daran halten?
Weichst du vom vorgegebenen Bild ab, rutscht du einfach ohne Federlesen in die nächste Schublade. Findet sich auf die Schnelle keine passende, wird gerne "rebellierender Underdog" als Ablage verwendet. Sich dort hinauszustrampeln bedeutet wieder eine ganze Menge Arbeit.
Deine Selbstverwirklichung wird von der Gruppe milde lächelnd als "noch nicht abgeschlossen" bewertet. Dann darfst du wieder hart an der Erkennbarkeit arbeiten, um das Gegenteil zu beweisen.
Der schnöde Alltag
mit seinen Lebensbewältigungsaufgaben kann dir dabei ganz schön an den Karren fahren.Wie wäre es stattdessen...
... den ganzen Selbstbildverwirklichungskram beiseite zu legen? Die identitätsstiftenden Seinsvorstellungen zu reduzieren?
Bilder sind Objekte.
Objekte kannst du besitzen.
Und verlieren.
... lieber zu überlegen, was du gerne TUN würdest?
Und warum?
Notweniges? Um die "Not zu wenden"?
Und wie?
Das ist viel einfacher, klarer und zielführender.
Ohne Interpreationsballast.
Ich mag Verben.
Sie helfen uns, das Leben zu genießen und zu meistern.
Du entscheidest, wann du was wie tust. Niemand sonst.
Schluss mit "Ich bin XY!"
Wie wär's stattdessen mit "ICH BIN!"
Reicht doch, oder?
Also hör auf, Fragen zu wälzen wie "Ab wann darf ich mich als Tanguera bezeichnen?".
Geh einfach tanzen.
Als du!
Viel Vergnügen!
Herzliche Grüße und bis bald,
Manuela Bößel
Du solltest dir mehr die Angewohnheiten, Verhaltensweisen und Seelenlagen von Autisten aneignen. Die merken nicht mal, wenn man sie triezt, verlacht oder beschimpft. Sie führen ihr Leben, wie es ihnen richtig erscheint, ohne andere zu belästigen, zu stören, oder gar missionieren zu wollen. Kurzum: Nimm eine Handvoll Salz oder Staub und wirf es hinter dich, mit dem Gedanken: War das was? Ich bin der beste Mensch, ihr auch, also sind wir quitt.
AntwortenLöschenLieber Peter,
Löschenschreibt da etwa einer, der sich nicht einschubladeln lassen kann und das auch nimmer will? Einer, der diese Schwierigkeiten kennt? Und gelernt hat, damit umzugehen?
;)
So versuche ich, deinen gedankenanstossenden Rat zu beherzigen. Muss aber wahrscheinlich noch eine gute Zeitlang üben...
Ich glaub' ich nehme für den Anfang a bissele Sternenstaub zum Werfen. Salz knirscht so unter den Tanzschuhen.
Herzliche Grüße,
Manuela
Da scheibt einer mit starken autistischen Tendenzen ...
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