Betablocker - Adiós corazón?
Stell dir vor...
... du stehst im Bad, kämmst dir zufriedengearbeitet den Feierabend ins Haar. Die üblichen Restaurierungsmaßnahmen waren weniger aufwändig als sonst, weil im Schimmer deines vorfreudigen Lächelns die Falten in Gesicht und Kleidung abflauen. Die chinesische Glückskatze winkt, obwohl ihre Batterien eigentlich leer sind.Ein fröhliches Liedlein pfeifend schnappst du dir deinen Tanzschuhbeutel, springst übermütig wie die Geiß im Frühling die Stiege hinab und machst dich auf den Weg zur Milonga.
TANZLUST (!) quillt aus jeder Pore respektive Knopfloch.
Dein Herz singt "Negra Marías" Rhythmus, während du an der Ampel auf grünes Licht wartest. Dem Nasenpopler im Nebenauto winkst du grinsend zum Abschied. Auf dich warten schließlich vielversprechendere Genüsse: Du freust dich unbandig auf die geliebte, sinnlich-bewegende Lebensfreude beim Tango!
In deinen Füßen kribbelt schon beim Schuhwechsel die Vorfreude.
Beim Betreten des Saals zerfällt allerdings ein Gutteil der Glitzersternlein in Blut und Gemüt, getroffen von fader Musik - ein Effekt, als würdest du ein ganzes Fläschchen Sab (Entschäumer gegen Blähungen) ins Hefeweizen kippen.
Wenige Paare schleichen derweil mäßig ambitioniert über's Parkett.
Du kostest mit dem freundlichen Herrn neben dir deinen ersten Tango an diesem Abend. Der Geschmack erinnert an den trüben Inhalt einer Limoflasche, die zu lange offen in der Sonne gestanden ist. Ein eher unerwünschter Kindheitsbackflash, der einen nicht zu vernachlässigenden Energieabfall zur Folge hat. Dein Tanzpartner hingegen schiebt dich schneckengleich, doch hochzufrieden: Seit der DJ "nimmer so aufregendes Zeugs spielt", käme er wieder öfter.
Einen Kommentar zur Zweideutigkeit seiner Aussage schluckst du tapfer hinunter. Nach drei Tangos bewegt sich dein Puls träge auf Schlafniveau. Positive Anregung (ja, positiver Stress!) geht anders.
Auch die etwas schnelleren Stücke, die der rentnerbeige DJ kredenzt, rühren dich kaum an. Für schwitzend-fröhliches Herumtollen auf der Piste hat auch dein folgender Tanzpartner - wie die anderen Gäste mit den merkelnden Mundwinkeln - kein Verständnis.
Bedrückend-bedrückt stehen die Herrschaften auf der Fläche spazieren, an diesem grauen Abend, betröpfelt von reizarmer Musike (sprich: "Muu-sii-kööö").
Parallel zur mitgebrachten Menge deiner Lebenslustenergie sinkt dein Blutdruck samt Pulsrate und deine Stimmung in Richtung depressiv.
Und wie war das mit dem sinnlich-erotischen Aspekt beim Tangotanzen gleich nochmal?
Lässt sich ja eigentlich nicht zur Gänze fortdiskutieren, wenn Mann und Frau sich umarmen, oder?
Posttango-Begehr? Oder gar "Libido"? Gibt's das?
Nein, gewiss nicht! Hier nicht.
Adiós corazón...
Erst daheim merkst du, dass dir schon ein bissel schwindelig ist vor Hunger: Dein Blutzuckerspiegel hockt nörgelnd im Keller. Also futterst du dich durch deinen Kühlschrank.
Ziehst du das eine Zeitlang durch, freut sich die Waage, dass du endlich auch die oberen Bereiche ihrer Skala benutzt.
Schlaf und süße Jugendträume mögen dich heut' nicht besuchen, stattdessen interessiert keinen, ob du weinst...
Schluss jetzt!
Verlassen wir die Szenerie und schauen lieber von außen drauf:
Dynamische, kreative Ausdrucksformen vermisse ich beim Beobachten der Tänzer auf solchen Milongas oft ebenso wie diese unbezähmbare, herzensstimulierende Lebenslust, die der Tango für mich bedeutet.
Böse gefragt:
Sollen da etwa Herzen geschont werden?
Weil ein zu hoher Herzens-(Aus-)Druck inzwischen gefährlich scheint?
Schließlich wurden auch die Grenzwerte für den körperlich-medizinischen Blutdruck gesenkt. Für jeden Patienten - unabhängig von Alter, Vorgeschichte, der aktuellen Situation etc. - gilt nun 120/80 als "güldener Standard": Der Wert, der unbedingt zu erreichen ist, unabhängig davon, wie es dem Patienten damit geht.
Dann werden gerne, meist neben anderen blutdrucksenkenden Medikamenten, Betablocker verordnet.Die Wirkungsweise ähnelt der einer "herzschonenden Milonga" wie oben beschrieben.
Im Herzen sitzen "Empfangsantennen" der Nervenfraktion: sogenannte Beta 1-Rezeptoren.
Der Betablocker verhindert, dass die Bitte der Steuerungszentrale "Liebes Herz, bitte mehr pumpen, ich möcht' Tango tanzen und schwitzen und mich freuen" am Herzen ankommt.
Der Briefkasten ist zugepappt. So hängt das Herz desinteressiert wie ein Teenager im Sitzsack und mag nicht auf Leistungsanforderungen reagieren.
Der Blutdruck wird niedergedrückt, die periphere Durchblutung schwächer - Aktivität, Kreativität und Lebensfreude ebenso - und in Folge oft auch die Stimmung.
Bei Patienten mit pAVK (arterielle Durchblutungsstörung meist im Beinbereich) verringert sich die Wegstrecke, die sie noch bewältigen können - ein typisches "Encuentro-Syndrom"?
Andere Nebenwirkungen können Gewichtszunahme, Schlafstörungen samt Albträumen und verzögerte Symptome bei Unterzucker sein.
Im doppelten Wortsinn hemmt das Medikament nebenbei immer mal wieder die "Verkehrsfähigkeit".
Das Konzept ist also Schonung des Herzens durch weniger (An-)Reiz.
Damit argumentieren auch die Verfechter der "unaufgeregten Milonga" und "verordnen" der Tangopoulation - unabhängig von Alter, Vorgeschichte, aktueller Situation etc. - die Schonung der Herzen.
Ob die Tänzer wollen oder nicht, alle würden am liebsten vorsorglich beschirmend-behütend mitbehandelt: laue Musik, artig langsam in der Ronda tanzen, unaufgeregt interpretieren, nicht sprechen beim Auffordern. Zuviel aufsteigender Tanzdruck wäre ungesund oder gar gefährlich!
Berücksichtigt man die in den letzten Jahren sinkenden Blutdruck-Grenzwerte, "müssen" (?) wohl immer mehr Herzen auf diese Weise beschützt werden. So wächst die Gruppe derer, die zu Patienten werden.
Was bin ich froh, dass sich wenigstens der Tanzdruck nicht anhand einer Skala messen lässt!
Eine allmähliche Absenkung des "güldenen Standards" in bewegungslose Gefilde wäre zu befürchten. Dann würd's ganz schön fad.
Herzliche Grüße von der "Beta-Bloggerin" und bis bald,
Manuela Bößel
P.S. Bevor du deine Blutdruckmedikamente absetzen oder ändern möchtest, sprich' unbedingt mit dem Arzt oder Heilpraktiker deines Vertrauens!
P.P.S. Eine herzschonende Milonga wie beschrieben ist KEIN adäquater Ersatz für eine schul- oder alternativmedizinische Bluthochdruckbehandlung! ;)
zum neuen Blog: www.tangofish.de
Quellen / mehr zu diesem Thema:
https://de.sott.net/article/17520-Arzte-erhohen-Schwelle-fur-Blutdruck-Medikamente-und-warum-die-Grenzwerte-eines-normalen-Blutdrucks-nichts-mit-Wissenschaft-zu-tun-haben
http://naturheilt.com/blog/blutdruck-und-seine-normwerte/
http://www.draloisdengg.at/bilder/pdf/Normwertetrick.pdf
* Möchtest du das Bild oder diesen Text verwenden?
* Mehr lesen? Hier entlang zu Manuelas Büchern
Musst halt wonders hingehen, wo weder Beta noch Alpha blockiert wird, dafür die Menschen wie Gammastrahlen tanzen ...
AntwortenLöschen... und ich weiß auch schon wo :)
AntwortenLöschenStrahlen wir dann ein bissel miteinand'?
Bis bald und liebe Grüße!
Super Blog - so ist es oft da und dort in Wien - und ...? Nach Möglichkeit gehe ich dorthin, wo ich eher einen höheren Durchschnitts-Level der T@as/os erwarten kann - oder verabrede mich, um auf `Nummer sicher zu gehen´- wenigstens für einige Tandas ! Abrazo (in Zürich 3x Wango zu Wange ... !)
AntwortenLöschen:-) ;-)
Lieber Harald,
Löschendanke für die Blumen!
Das mit dem "höheren (Tanz-) Level" scheint meinen Beobachtungen nach stark mit dem Musikangebot zusammen zu hängen: läuft lebendigere Musik - auch traditionelle - tanzen die Leut' gleich besser.
Herzliche Grüße und 3 Besitos!
Das erinnert mich sehr an die unselige Verordnung von "Schonkost".
AntwortenLöschenNix regt bei einem Klinikaufenthalt mehr auf als dieses "Urteil".
Dort hören sie allerdings meist inzwischen auf ihre hauseigenen Ernährungsberater und die Verwendung von Gewürzen einschließlich der Einbeziehung patienteneigener Kauwerkzeuge nimmt deutlich zu.
Es auch nicht zu übersehen, dass die Tangoschonkost deutlich zunimmt und eine ausgeglichene Ernährung immer seltener zu goutieren ist.
Also dann wieder die bewährte Taktik...Koche gut...und rede darüber :-))
Lieber Peter,
Löschenjep, inzwischen spricht sich's doch rum, dass einem gelben Rüble und dem zu schonenden Patienten ein winziges bisschen Salz, evtl. sogar eine Prise Fenchel- oder Senfkörner, oder gar für ganz Mutige (!) ein Häuchlein Ingwer nicht zwangsläufig schadet. Im Gegenteil!
Es gibt ja sogar schon Therapeuten (Ernährungsberater, HPs oder Krankenschwestern), die zum Äußersten greifen und den Patienten FRAGEN, was ihm schmeckt. ;)
Also: Fragen (!)... Antworten (!) ... was G'scheits kochen und drüber reden!
Herzliche Grüße,
Manuela
Hi Manu,
AntwortenLöschenevtl. ist es doch einer der wenigen Vorteile, die man als Mann noch hat, dass man die Variante zwischen "herzschonend" und "herztrainierend" zu tanzen, noch zum Großteil selber wählen kann (in noch fast jeder noch so öden Milonga hab gabs dann doch auch etwas mitreissendere Musik) ;-)
Liebe Grüsse von Robert (auch mit Blutdruckmedikamenten, aber keine Betablocker ...)
PS: und ich hab ja gestern eine Milonga entdeckt, wo die ganze Bandbreite abgedeckt wurde ;-)
Lieber Robert,
Löschenschau, so schnell kann der Tango zur wirksamen Therapie werden ;)
... und muss nicht nur den Mannsbildern vorbehalten bleiben. Führen dürfen beide Geschlechter ;) herzschonend oder -trainierend!
Herzliche Grüße,
Manuela
Richtig, aber irgendwie trauen sich viele Frauen gar nicht zu führen oder auch nur selber Impulse fürs Tanzen zu geben, und müssen dann halt drauf reagieren, was der Mann vorlegt ;-) (allerdings glaube ich gerne, daß viele Männer auch nur "herzschonend" führen (können)). Dabei ist Tango doch als "Dialog" am schönsten.
LöschenDaß Tango gut tut, weiß ich nun auch schon seit über 10 Jahren. Ob er sogar therapeutische Wirksamkeit hat, weiß ich nicht ;-)
Ciao, Robert
Liebe Manuela, ich bin selbst erfahrene Tangotänzerin und Tango-DJane und muss dir widersprechen. Nach unzähligen traditionellen wie modern-innovativen Milongas kann ich nur feststellen, daß es nicht an der Musik liegt, ob das Tangoherz eingeht oder höher schlägt. Natürlich spielt die Musik eine wichtige Rolle, doch es gibt langweilige traditionelle Tangos genau so wie es anödende Elektro- oder Nontangos gibt. Wer ein feines Musikgespür hat wird nie langweilig auflegen, egal welche Musikrichtung er wählt. Es sind, wie sonst auch, die Menschen, die Stimmung machen, die ihr Herz öffnen - oder auch nicht. Statt immer wieder neue Schubladen aufzumachen sollten wir doch lieber unsere Gemeinsamkeiten feiern! Herzliche Grüsse von Marietta
AntwortenLöschenLiebe Marietta,
LöschenMein Hauptanliegen mit diesem Artikel war, den Wirkmechanismus von Betablockern zu erklären. ;)
Die kurz vorher erlebte Milonga-Geschichte hat sich dafür einfach prima geeignet - eine Steilvorlage quasi.
(Dass sie "fad y tradi" war - Zufall...)
Mir geht es hier keineswegs um erneutes Einschubladeln: Tradi ./. Neo".
Ich habe sowohl frisch-spritzige Milongas erlebt, wo diese ganz alte Musik mir die Lebensfreude aus den Knopflöchern hat dampfen lassen als auch Neo-Veranstaltungen, die mit
"ntz...bumm...chacka...ntz...ntz... (etc.)" den Tanzdruck in schlafähnliche Gefilde absenken wollten.
Ich finde schon, dass die Musikauswahl eine hochwichtige Rolle spielt, um die Herzen tanzbereit zu stimmen!
Die Frage, aus welcher "Kiste" die Musik stammt, ist für mich zweitrangig: Hauptsache interessant, quietschlebendig und glitzernd.
Wer es gerne "unaufgeregt" (nach meinem Empfinden langweilig) hat, auch gut. Das möcht' ich niemandem ausreden. Aber "meinen Tango" lass' ich mir nimmer wegnehmen! Und ab und zu auch Gassi führen können / dürfen...
Jedem das seine. Die Tangowelt ist groß genug ;)
Herzliche Grüße,
Manuela
P.S. Wo legst du auf?
Liebe Manuela,
AntwortenLöschenja, die Tangowelt ist groß genug, genau das meinte ich! :)
Ich habe dieses Frühjahr aufgelegt im Chorforum in Essen (100% Non/Neo) und vor kurzem im Dance-IN in Trier (90% traditionell). Bei meiner eigenen kleinen Milonga (die grade pausiert) habe ich immer gemischt aufgelegt.
Liebe Grüsse von Marietta