Erinnerungsterror

Wachkatze im Dienst * Manuela Bößel



Tapfer schaue ich nicht in den Garderobenspiegel, als ich den Haustürsummer bediene und meine Wohnungstür öffne. Wer mich an einem freien Samstagspätnachmittag rausklingelt, muss den doch unvorteilhaften Anblick von Gemütlichkeits-Bumbel-Hose, Schlabber-Pelzi-Pulli samt Nichtfrisur ertragen. Meine Vermieterin und der Paketbote schaffen das erwiesenermaßen. Und wer sollte es auch sonst sein?

Übers Geländer gelehnt sehe ich die Besitzer der mehr als erwartet (also zweier) trappelnder Füße: bunte, waschelnasse Könige. Auch mehr, als man annehmen könnte: statt drei zähle ich sieben. Nicht Füße, sondern Könige verschiedener Größe sowie (noch) indifferenten Geschlechts. Aus dem Erdgeschoss motzelt der papaische Begleitschutz über das zwingend ins Auge zu fassende Schichtende. Aber hier dürfen sie noch.

Das Leitkönig plaziert seine Herdenmitglieder hübsch auf den Stufen und löst per Handzeichen die Arbeitsroutine aus: Kaspar, Melchior und Balthasar sprechen ihre gereimten Texte - angesichts der grausligen Wetterverhältnisse verständlicherweise - nicht ganz so engagiert wie im letzten Jahr. Segensspruch plus Aufpappen der aktuellen Jahreszahl, großes Pardon, dass der Weihrauchkessel, da wetterinkompatibel, ausfällt, nasse Haare und Kronen. Dafür ist der ins Kässle gesteckte Schein größer als letztes Jahr. Königshelden! Ich setze bei so einem Sauwetter gewiss keinen Fuß vor die Tür.

Eine kleine, kalte Brise streicht mir um die Wadeln. Die Truppe verabschiedet sich, und während sie nach unten trappelt, schließe ich die Wohnungstür. Haussegen updaten lassen, a bissele gespendet, heißer Tee, Sofa und Buch warten. Alles supergut! Aber wieso kratzt mich da so ein kleiner, undefinierbarer Grant hinten im Hals? Räuspern bringt nix. Der Schluckversuch befördert selbigen in den Bauch, wo er trotz Wärmflasche muckt. Da - jawoll! - alles gut ist, beschließe ich, ihn zu ignorieren, und wende mich wieder meinem Roman zu. Nach zwei Seiten erinnert mich eine dort beschriebene Szene an den Urlaub mit einer Person, an die ich nun wirklich nimmer denken mag. Danke, verehrtes Großhirn! Solche Assoziationen herzustellen mag ja hochkreativ wirken, aber im Moment muss das echt nicht sein! Ein vollmondlich beschienenes Meeresrauschen quillt aus dem Buch oder meiner Erinnerung - ich kann es echt nicht genau sagen - und macht es sich in der Strandzeichnung über der Couch gemütlich. Die wird dadurch etwas unscharf an den Rändern, was mir gar nicht gefällt.

Also nicht mehr lesen, lieber fernsehen. Tatort. Der Kommissar wirft mit einer Geste, als würde er sich Rotz von der Hand schütteln, etwas aus dem Bildschirm. Es landet auf dem obersten Blatt der Clivie und zerfließt mit den Schatten. Kurz vor der Mordaufklärung schummert es dort staubmausähnlich-krabbelig-bewegt. Bestimmt habe ich mich getäuscht, Reflexe auf der Brille oder so...

Am Bett sitzend trage ich keine Brille mehr. Kein Buch, kein TV. Aber wieso riecht es jetzt nach ebendieser Person, an die ich mich eben nicht entsinnen will? Das ist mein Schlafzimmer! Ich mag hier nur Lieblings-Memories-Trigger! Keinen Gestank aus alten Zeiten, der Herz und Seele quasi retard vergiftet. Es schneit herein beim Lüften, und ich schlottere nicht nur vor Kälte. An Rosmarin-Säckchen unter'm Kopfkissen für gute Träume glaube ich normalerweise nicht, platziere aber trotzdem eines in Nasennähe. Auf die Schwelle spucken soll auch helfen. Aber - falls es Gespenster gibt - ist eines eh schon drin. Decke bis über die Ohren ziehen und Augen zukneifen wäre schon albern. Die am Fenster zu sehen gemeinte Silhouette besagter Person lässt mich die Albernheit des Einfalls jedoch noch einmal überdenken.

Ich komme mir reichlich blöd vor, als ich traumgebeutelt-augenringgeschmückt am nächsten Morgen Salz auf die Türschwelle und die Ecken meiner Wohnung streue und hinspucke. Die Person hat inzwischen an Substanz und Farbe zugenommen. Sie bohrt momentan mit meinem Kugelschreiber Löchlein in den Kaktus. Dann pustete sie mit einem gewaltigen Atemzug meine sorgfältig sortierten Steuerunterlagen in alle Windrichtungen. Fluchend wie in alten Zeiten - ja, die mit dieser Person verbrachten Zeiten - sammle ich alles wieder ein. Mit "Ausgaben / Fachliteratur" schlage ich auf die Person ein bzw. durch. Die Rechnung für "Die Geheimnisse der Therapeuten - Wie Psychologen sich selbst behandeln" landet in der Pfütze verschütteten Kaffees. Eben! Bist nicht echt! Schleich dich doch! Du gesch... Erinnerung, du!

Okay, beruhigen. Malen! Das hilft bestimmt! Ich mal mir eine Katze. Die kann dann hier wohnen und wachen. Die Person war ja allergisch gegen Katzen. Prima Idee, gell? Person belehrt mich währenddessen logorrhöisch, dass gemalte Katzen keine Haare absonderten und folglich keine Allergien auslösen könnten. Vielleicht sollte ich ein Katzenklo dazu zeichnen für die vielen Worte. Außerdem sei eine gemalte Katze nun mal nicht echt. Ich sei halt ein Dummerle. So entkleidet die Person weitere Episoden, die in meinem Hirn schon so trefflich gewandet in erträglichen Hüllen wohnten. Jetzt kreischen sie herum, nackig bloßgestellt.

Dem Dilemma muss doch mental beizukommen sein! Konzentration! Meditation! Oder so! Ich absolviere mit gebündelter Anstrengung sämtliche mir bekannte Übungen, gepiesackt von fordernden Einflüsterungen der Person. Ich mag keine ihrer Dinge mehr suchen müssen, überhaupt gar nix mehr für sie erledigen! Nichts von ihr hören, nichts von ihr sehen, nicht mit ihr reden - wie die drei Affen! Keine Chance! Nimmermehr!

Die Katze wirkt auch nicht.

Dann beginne ich die Gedanken-Klarheits-Arbeitsliste noch einmal von vorne abzuarbeiten. Und ich wage es kaum zu gestehen: in einem Kreis aus Steinen. Das Ergebnis meiner Bemühungen bleibt konsequent uneffektiv. Vielleicht reichen gewöhnliche Kieselsteine spiritualkraftmäßig nicht? Das Erinnerungsgespenst ist immer noch da. Mehr als das, jetzt riecht es lauter, schnauft verloren gedachte Zeitbrocken aus, und ich fühl mich so emotional derangiert wie damals.

Amazonenkriegerisch "in meiner Kraft stehend den Tiger reitend" - vulgo furiengarstig wie ein Marktweib plärrend - wende ich mich direkt an die Person, schimpfe, zetere, stampfe mit den Füßen. Die Ohrfeigen flitschen durch sie hindurch, ohne Eindruck zu hinterlassen. Keine Reaktion! Die Person lümmelt weiter in meinem Refugium herum, unterbrochen von gelegentlichen Kühlschrankausflügen. (Woher kommt eigentlich das Bier?) Sogar meine Klobrille ist verspritzt! Scheiße nochmal! Verschwinde endlich!

Als es Nacht wird, gebe ich auf. Ich bin so ausgepowert, so müde, so leer. Ich kann nicht mehr. Und du, Person, nimm die Hälfte von meinem Käsbrot und mach, was du willst. Die Erinnerung - nicht die echte Person - bekommt Kissen und Gästedecke für's Sofa sowie ein Gutenacht-Bier. In mein Bett geh ich allein. Mein Einschlafen begleiten Schnarchen aus dem Wohnzimmer und der streng-unverwechselbare Geruch von Geister-Socken.

Am nächsten Morgen stupfe ich mit einem Kleiderbügel vorsichtig in den Deckenhaufen. Die Person ist fort. Nur dieser spezielle Geruch, der Nackenhaar-Obacht-aufstellende, hängt noch in der Luft. Was wollte die Person hier? Die Raunächte sind rum, deren Ende läuten die Heiligen Könige ein - egal wie viele. Ob Erinnerungsgeister wohl schlechte Eigenschaften wie chronische Unpünktlichkeit behalten müssen?

Trotzdem werde ich nachher die Bierkäpsele einsammeln und mit einem glimmenden Salbeiblatt durch meine Wohnung wandern. Die Könige hatten ja keinen Weihrauchkessel dabei.


Herzliche Grüße,
Manuela 

zum neuen Blog: www.tangofish.de

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