Was fehlt ihm denn?



"Grüß Gott! Na, was fehlt ihm denn?"
Sie hebt den Transportkäfig auf den Behandlungsstuhl.

"Mei, ich weiß auch nicht. Er hängt nur noch in seinem Eckle rum. 
Zu gar nix kann ich ihn motivieren! 
Und wenn man was von ihm will, wird er garstig und beißt. 
Fressen tut er auch nur hier und da ein Bröckle, von dem was ich ihm hinstelle... Und den Rest kann ich dann wegschmeißen."

Vorsichtig versuche ich einen Blick  durch die Gittertür den Käfigs zu erhaschen. Ihr "Tango" kauert ganz hinten im Dunklen und knurrt.

"Ist es ein Führerle oder Folgerle?"

"Das weiß man nicht so genau. 
Ich hab ihn ja quasi gebraucht gekriegt. 
Ein Zuchtbuch oder Tätowierung hat er nicht. 
Er ist mir damals zugelaufen." 

Sie streift ihren mitgebrachten Gartenhandschuh über und greift in den Käfig hinein.
"Jetza kooomm, kooomm, Butzele... 
Die Frau will doch nur schauen, nur a bissele untersuchen.
Dass dir wieder gut geht.
Ja fein, Schatzele, fein. 
Geht doch!"

Sie stopft ihm ein Leckerli in die Schnauze. Trotzig mampfend lässt er sich sofort wieder auf seinen dicken Hintern fallen. Ich befürchte, er hat ein Häuflein prodziert.

"Können sie ihm nicht eine Medizin verschreiben? 
Oder akupunktieren? 
Geld spielt keine Rolle! 
Der soll wieder so sein, wie früher, so lustig!"

"Was geben Sie ihm denn so zum Fressen?"

"Nur bestes, ausgewähltes Futter! Von Tangoexperten empfohlen! 
Leicht verdaulich und kalorienarm! 
Das mit dem goldenen EdO-Siegel." 

"Industriell hergestelltes Futter enthält leider wenig Vitamine und Mineralstoffe. 
Grade jetzt im Frühling bräuchte er 'lebendige' frische Nahrung, die neben Bitterstoffen auch Ballaststoffe enthält, um vital zu bleiben."

"Aber dann kriegt er doch Blähungen! 
Und wo soll ich das frische Zeug denn herkriegen? 
Außerdem isser ja sooo heikel!"

"Seine Verdauung spielt sich mit der Zeit ein, wenn er sich wieder an gesunde Nahrung gewöhnt hat. Wir könnten ihn im Zuge der Nahrungsumstellung gleich entgiften, dann ging's fixer mit der Anpassung.
Probieren's doch einfach mal eine Milonga aus, die gemischte Nahrung bietet. 
Lassen Sie ihn an vielen verschiedenen Speisen schnuppern. 
Da sucht er sich dann schon genau das aus, was er braucht für seine Gesundheit: 
Das ist die sogenannte 'Nasendiät', sie wird erfahrungsgemäß bestens toleriert. 
Wissen's - egal ob Führele oder Folgerle - die sind hochintuitiv, und wenn sie nicht artgerecht gehalten werden, verfetten sie und werden träge."

Sie scheint skeptisch.
Ich prüfe derweil mit dem Stethoskop die Belüftung seiner Lungen. Als regelrecht kann ich sie nicht beurteilen, "Brummelschleim" hängt in den oberen Atemwegen. Die Atemfrequenz ist erhöht, sein Blutdruck ebenso. Nicht gut.

"Kommt er genug an die frische Luft? 
Wie oft führen Sie ihn denn Gassi?"

"So alle zwei bis drei Wochen. Wenn eine Milonga bei uns im Ort ist."

"Darf er sich da austoben, mit anderen 'Tangos' spielen?"

"Na ja, das Führele von meinem Mann sieht das gar nicht gern. 
Der schmollt mir dann tagelang."
Ob sie vom Ehegatten oder seinem Tango spricht, will ich nicht weiter klären.

"Ihr Tango sollt' sich schon ein wenig mehr bewegen. Schauen's ..."

Ich zeige auf Bleistiftvorderbeine, die fast in der Bauch-Brustkugel verschwinden.
"... seine Muskeln atrophieren, und..."
Sanft stelle ich ihn auf die Hinterbeine, beuge seine Oberkörper nach vorn.
"... bewegungseingeschränkt isser im Rumpfbereich auch schon. 
Die 'Tangos' entwickeln ganz schnell Kontrakturen, wenn man nicht aufpasst."
Sonst sind seine Gelenke zumindest passiv im physiologischen Rahmen beweglich.

"Ich schlage vor, für den Anfang mindestens einmal die Woche Tangogassi. 
Dafür gebe ich Ihnen ein paar Adressen. 
Und täglich daheim eine Stunde toben lassen zu Sexteto Milonguero oder Beltango. 
Irgendwas in der Art, wild und frisch sollt's sein. Dort finden's ein paar schmackhafte Zusammenstellungen.
Und lassen's ihn tanzen wie ER will, ohne Halsband!
Das steigert Appetit und Stimmung und senkt Blutdruck sowie Gewicht."

"Haben nicht wenigstens was, das ihn a bissele beruhigt? Dass er nimmer so garstig ist?"

"Sie möchten ihn doch 'so wie früher', oder? 
Lebenslustig! 
Und dass Sie wieder mehr Spaß haben miteinander?"

"Ja, schon..."

"Probieren Sie's einfach aus. 
Die Therapie 'Bewegung an der frischen Luft, was G'scheits zum Essen und ein gutes soziales Umfeld mit Liebe und Respekt' reichen im Moment, dass es ihm wieder besser geht. 
Das ist die Basis. 
Therapeutisch und diagnostisch nachlegen können wir immer noch, wenn das alles nix hilft."

Und die Moral von der Geschicht'?


Die "Geschicht'" beschreibt den Problemlösungsansatz in der Heilkundekategorie "Gesundheits- und Krankenpflege". Ganz bewusst verwende ich hier den Begriff Heilkunde.

Pflege kann mehr sein, ist oft viel mehr, als die Patienten "satt und sauber" zu halten.
Gute Pflege aktiviert dann automatisch die Selbstheilungskräfte des Kranken.
Sie kann heilen, im Sinne von "wieder ganz werden an Leib und Seele".

Sachkundiges Pflegen mit Respekt und ganz viel Liebe würde oft genügen als Therapie.

Unspektakulär im Ausdruck, aber hocheffektiv!

Herzliche Grüße,
Manuela Bößel

zum neuen Blog: www.tangofish.de

Kommentare

  1. sehr hübsch, Manu, das Rezept ist einwandfrei und sehr zu empfehlen... vor zwei Wochen hatte ich das Vergnügen, einem solchermaßen entspannten Tänzer zu begegnen das hat mir meinen "Glauben " wiedergegeben... nicht zu vergessen das "Fraule", das mir diese Begegnung ermöglicht hat :) liebe Grüße Lydia

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    1. Liebe Lydia, dankeschön!
      Ein anderer Pflegegrundsatz ist, "die Resourcen" mittels Prophylaxen zu erhalten ;) Das Dokumentieren können wir uns im Tango - Gott sei Dank - sparen. So wünsch ich Dir, dass Dein Tango weiter g'sund bleibt.
      Liebe Grüße
      Manuela

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  2. Robert Wachinger11. Mai 2016 um 21:48

    Liebe Manu,

    seit heute (hab vorhin dein Buch in einem Rutsch gelesen ;-) ) weiss ich, dass ich auch so einen habe. Aber anscheinend pflege ich ihn richtig und füttere ihn abwechslungsreich (das geht sogar in München), auch wenn er schon ein bisserl ruhiger geworden ist (muss ihn nicht mehr täglich tangogassi führen, ein bis dreimal in der Woche reicht mittlerweile auch).

    Danke für deine schöne Bildersprache,
    Robert
    ;-)

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    1. Lieber Robert,

      das war mir schon klar, dass du auch "einen" hast ;) Pass gut auf ihn auf, das ist nämlich ein ganz besonderer, der sogar amal harte Bebob-Kost verträgt. Oder braucht? Von der Sorte gibt's net so viele...

      Danke für's Buchkompliment!

      Herzliche Grüße,
      Manu

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    2. Robert Wachinger12. Mai 2016 um 18:25

      braucht er und kriegt er ;-)

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Aktualisiert am 15.10.19