Gastbeitrag von Christiane Bößel: Warum uns viel öfter alles „wurscht“ sein sollte

article image tangofish Mehr Gelassenheit durch Wurschtigkeit (Manuela Bößel)
Heute darf ich einen ganz besonderen Gast im Blog begrüßen: 
Christiane Bößel (Autorin) gibt uns die Ehre! Sie ist nicht nur meine leibliche Schwester, auch in ihrem früheren Beruf, der Krankenpflege, wurde sie so gerufen, bevor sie Literaturwissenschaft und Philosophie studierte. 

Sie beschreibt uns einen Weg, der uns vielleicht zu mehr Gelassenheit führen kann.

Familienähnlichkeiten werden - trotz aller Unterschiede - dem geneigten Leser nicht verborgen bleiben. Sie bittet um einen kleinen Hinweis zu ihrem Text: "Obacht, Satire!" Leider ist sie öfter mal von "achtsamen", zum Teil sogar "betroffenen!", wesentlich weniger bösartigen (?), "guten" Menschen umgeben, die ihren genintern sitzenden Schabernack nicht so gerne goutieren mögen. Oder können? Aber genau dafür stelle ich ihr mit Freude die Blogbühne zur Verfügung!

Viel Vergnügen!
Bühne frei für Christiane!

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Liebe Leser und Leserinnen des Im-Prinzip-Tango-Blogs,


ich gestehe – und ducke mich gleich ein bisschen: Ich tanze keinen Tango!
Auch nichts anderes. Das letzte Mal habe ich in der Küche getanzt, ganz alleine für mich, als im Radio ein Achtziger-Jahre-Disco-Lied gespielt wurde. Mein Kater wusste gar nicht, wie ihm geschah, und hat sich vor Schreck in den Schrank verzogen.
Eigentlich mag ich Tango nicht einmal besonders gerne.
Im Prinzip... gar nicht.
Besser gesagt, Tango ist mir völlig egal, also wurscht, wie man hier in Augschburg sagt. Ich beschäftige mich gar nicht damit.

Und wissen Sie, wieso?

Weil uns viel öfters alles wurscht sein sollte.

Wie Sie es auch nennen mögen: wurscht, schnuppe, pinke-panke, egal, am A... vorbeigehen, belanglos, einerlei, nebensächlich, gleich, irrelevant ... Ich könnte noch viel mehr Synonyme aufzählen, der deutsche Wortschatz bietet hier eine Unmenge an Möglichkeiten. Schon diese Fülle an Wörtern für ein und dasselbe zeigt, wie wichtig diese Wurschtigkeit ist – oder es sein sollte.

Warum aber sollte uns viel öfter alles wurscht sein?

Dafür gibt es eine ganze Menge Gründe. Die Prioritäten dürfen Sie sich dabei selbst heraussuchen.

1. Es spart wichtigen Speicherplatz im Gehirn und Zeit, die Sie für anderes nutzen können! 

Anstatt sich mit dem Leben anderer zu beschäftigen, füllen Sie den frei gewordenen Speicherplatz mit Ihren eigenen Probleme, Ideen, Gefühlen. Schert man sich erst einmal nicht mehr um fremde Themen, ist es erstaunlich, wie viel Platz und Zeit plötzlich für Kreativität und aufwändige Hobbies frei wird. Selbst zum Socken Bügeln haben Sie auf einmal wieder Kapazitäten. 

Wenn Sie Psychiater, Psychologe, Arzt, Heilpraktiker, Pfleger, Verkäufer oder Ähnliches sind, sollten Sie diesen Rat umso ernster nehmen, auch wenn es Ihr Job ist, sich mit den Sorgen anderer auseinanderzusetzen. Die Stuhlgang-Probleme Ihres Patienten mit nach Hause zu nehmen und mit Ihrem Partner beim gemütlichen Abendessen ausführlich zu diskutieren, könnte ein erstes Warnsignal sein, dass Sie es mit der Empathie übertreiben.

2. Es verringert den Stress und verlängert somit Ihr Leben! 

Wenn Sie sich nicht mehr so über andere aufregen, produzieren Sie weniger Adrenalin, bleibt Ihr Blutdruck in normalem Rahmen und Ihr Puls in Ruhe. Dies alles hilft bekanntlich, ein langes und entspanntes Leben zu führen. Wer will schon mit 40 ein Magengeschwür bekommen, weil er sich unnötig über seine Mitmenschen echauffiert? Oder, wie es Jugendliche gerne ausdrücken, „Chillen Sie Ihr Leben“, sonst kann bald niemand mehr zu Ihnen „Alder“ sagen (höchstens „Zombie“, wenn sie vor lauter Stress zu früh sterben, aber denen ist zumindest außer leckeren Gehirnen tatsächlich alles wurscht).

3. Still vor sich hin zu kichern ist viel besser und ästhetischer, als ein griesgrämiges Gesicht zu ziehen.


Vielleicht wirkt das auf andere erst einmal befremdlich, wenn Sie ständig wie ein Demenzkranker glucksen und lächeln. Doch sehen Sie sich einmal Videos oder Fotos vom Dalai Lama an. Wenn er nicht gerade tiefsinnige Weisheiten verbreitet oder Tibet befreit, kichert er eigentlich durchweg und ist sichtlich glücklich und zufrieden. Yoda würde übrigens auch lächeln, wenn er denn eine Mimik hätte.

Als erster Schritt sollte es Ihnen völlig wurscht sein, wie debil man dabei zuweilen aussieht, und man  tröste sich einfach damit, dass andere dabei genauso doof wirken (hierzu gibt es ein wunderbares Video über einen Vortrag von der legendären Vera F. Birkenbihl).

4. Es ist deutlich billiger als ...

Yoga-Kurse, Meditationsseminare, Baumumarmungskurse oder Drogen, die allesamt das gleiche Ziel haben, dabei aber noch dazu viel anstrengender oder illegal sind: die Wurschtigkeit.

5. Es ist gesünder als...

Medikamente wie Tavor oder Valium, die zwar extrem wurschtig machen, aber leider auch abhängig und dazu noch schwer zu beschaffen sind. (Außer Sie haben das Glück, über einen Hausarzt zu verfügen, dem auch alles wurscht ist und der Ihnen alles verschreibt, worum Sie ihn bitten.)

Leider schaffen wir es nicht immer, uns an diese Wurschtigkeit zu halten.


Wir beschäftigen uns viel zu sehr mit Dingen, die nichts mit uns zu tun haben, regen uns über Kleinigkeiten oder Großigkeiten auf (ja, ich weiß, dass es dieses Wort nicht gibt, aber es ist mir wurscht), die es nicht wert sind.
Warum? Weil wir Menschen sind und es in unserer Natur liegt, Urteile über andere zu fällen, damit wir uns besser, schöner, weiter oder anderweitig toller als andere fühlen.

Auch mir gelingt es natürlich nicht immer, dass mir alles wurscht ist – im Gegenteil. Oft wünsche ich mir, ein wenig mehr Dalai Lama und weniger Louis de Funès zu sein. Aber ich arbeite daran.

Doch kommen wir zurück auf das Beispiel „Tango“: 

Er ist mir, wie gesagt, einfach wurscht. So wurscht, wie es mir ist, ob Sie beim Lesen dieses Artikels einen Anzug oder einen karierten Pyjama tragen oder ob Sie in ausgeleierter Unterbumbel auf dem Sofa lümmeln. Vielleicht regen Sie sich auch gerade über diesen Text auf, finden ihn anmaßend, schrecklich, langweilig, wie auch immer.

Sehr gut! Und nun versuchen Sie, in sich zu gehen und sich zu sagen „Ist mir doch wurscht, dass die Tussi keinen Tango mag“, oder überlegen Sie sich einen eigenen Satz, der Ihre Wurschtigkeit ausdrückt.

Fangen Sie mit kleinen Wurschtigkeiten an.

„Mir wurscht, dass draußen schönes Wetter ist, ich bleibe trotzdem drin und schaue den ganzen Tag fern!“

Ausrufezeichen hinter Ihren Wurschtigkeiten sind dabei extrem wichtig! Ist Ihnen wurscht? Dann lassen Sie sie doch einfach weg! Ist mir doch wurscht!

„Mir wurscht, dass meine Jeans in den Neunzigern in Mode war, ich liebe sie trotzdem. Dass ich darin mittlerweile wie eine Presswurst aussehe – umso besser! Keine Wurst ist gern allein!“

„Mir wurscht, dass die Fettkruste am Schweinebraten ungesund ist, ich esse sie trotzdem, weil sie einfach lecker ist!“

Merken Sie, worauf ich hinaus will?

Vielleicht kennen Sie noch die „Positiv-Denken-Formeln“, die besagen, dass man alles, was passiert, positiv umformulieren kann. Und dass einem diese Strategie zu einer positiveren Lebenseinstellung verhilft.
Hm.

Probieren wir es an einem Beispiel: Ein Patient pinkelt Ihnen beim Mobilisieren auf die Schuhe. Statt sich aufzuregen, könnte man auch (ganz positiv bejahend, juhuu-jauchzend) jubilieren: „Schön, Herr M. kann wieder Wasser lassen.“  Oder, noch positiver: „Danke, Herr M, dass Sie mich an Ihren wiedererlangten Miktionsfähigkeiten teilhaben lassen. Jetzt habe ich keine kalten Füße mehr.“
Ja. Kann man. Muss man aber nicht. 

Ich bevorzuge die Wurstigkeit. Ohnehin wird Herr M. wegen seiner fortgeschrittenen Prostatavergrößerung bald überhaupt nicht mehr ohne Katheter pinkeln können. Lassen wir ihm doch die unkommentierte Freude, einer jungen Schwester die Schuhe bepinkelt zu haben. Zum Höhlenpinkeln reicht es ja leider nicht mehr.
Schuhe lassen sich außerdem reinigen, Ihr Seelenheil nicht.

Früher, ganz früher hasste ich das Tanzen nicht
. War sogar mal im Ballett. Das ist lange her und nur eine übrig gebliebene, von Mama selbst genähte Hasenmütze zeugt davon, dass ich tatsächlich meinen eher unsportlichen Körper zu Musik bewegt habe. Angeblich war ich nicht einmal schlecht. Heute sind meine regelmäßigen Bauch-Beine-Po-Übungen zur 6-Euro-Fitness-DVD das Höchste der sportlichen Gefühle, zu denen ich mich aufraffen kann.
Und es ist mir wurscht.

Ob ich in der Disco getanzt habe? Wenn ich denn mal dort war, ja. Das geschah nicht besonders oft, denn Discos mag ich ähnlich gerne wie Tango. Sie erinnern sich? Die Antwort ist: gar nicht. Und wenn doch, habe ich getanzt, wie man eben in den Neunzigern getanzt hat: den Kopf zu Boden gerichtet, zwei Schritte vor, zwei Schritte zurück, immer darauf bedacht, einen coolen Gesichtsausdruck zu bewahren. Oder man hat sich vermeintlich ekstatisch bewegt, was meist aber eher aussah wie ein betrunkener, debiler Schmetterling ... oder eher noch wie eine Raupe, die versucht, sich elegant in die Lüfte zu heben und von Blume zu Blume zu schweben.
Nichts also im Vergleich zu der Leidenschaft, die der Tango mit sich bringt. Die Eleganz und (trotz der überhaupt nicht ruhigen Musik) Ruhe, die die Tänzer und Tänzerinnen ausstrahlen. Meditativ glücklich, in sich gekehrt, sich ganz der Musik, ihren Rhythmen und Wirkungen hingebend. In solchen Momenten wünsche ich mir, ebenso vom Tanzen begeistert sein zu können wie Sie.
Doch, um konsequent zu bleiben, es ist mir wurscht.

Doch lesen Sie bitte trotzdem weiter und verachten mich nicht als tangophob.

Denn, wissen Sie was? Mir ist es völlig wurscht, ob Sie leidenschaftlich Tango tanzen. Ob Sie finnischen oder argentinischen Tango bevorzugen. Ob sie in den Tanzpausen rauchen, Wein trinken, Salzstangen knabbern, über die anderen Tänzer lästern oder den heißen Latino-Tanguero anschmachten. Ob Sie in Hose tanzen oder im Rock, mit Zopf oder Glatze.

Mir ist es auch völlig wurscht, was Sie arbeiten. Ob Sie Krankenschwester sind oder Altenpflegerin oder Lehrer oder Putzfrau oder Automechaniker oder Bäckereifachverkäuferin. Ob Sie bei Vollmond mit Mutter Erde ommen oder jede ihrer Bananen im Supermarkt einzeln in Tüten einpacken.
Das ist mir alles wurscht.

Nein, ich bin kein herzloser Mensch, den andere nicht interessieren. Ich interessiere mich sogar sehr für andere. Ich lasse sie nur leben, wie sie wollen, und respektiere sie als das, was sie sind.
Ja, wir alle sind umgeben von skurrilen Menschen, geraten ständig in Situationen, die in Romanen unrealistisch wirken würden, kommen uns vor, als seien wir der einzig Normale unter lauter Aliens. Na und? Ist doch wurscht! Dann bin ich eben komisch!

„Wurschtigkeit“ ist kein Zeichen von Ignoranz oder Egotum oder übersteigertem Selbstbewusstsein, nach dem Motto „Alles Dilettanten außer mir“. Sondern eine Lebenseinstellung, die es Ihnen leichter macht.

Es heißt auch nicht, dass Sie alles unreflektiert hinnehmen müssen, dass Sie sich nie mehr aufregen, nicht über die Schrulligkeiten anderer Leute schmunzeln dürfen oder es doof finden, wenn der SUV-Fahrer auf einem Behindertenparkplatz parkt, weil das Auto zu breit für die normalen Parzellen ist. Dem ist es nämlich einfach wurscht, ob den Platz vielleicht ein echter Behinderter dringend benötigt.

Ich zum Beispiel habe den Spleen, in jeder Stadt und überall, wo es Bimmelbahn gibt, damit zu fahren: Olympiapark München, Lignano, Colmar, Zadar, Wiener Prater ... von der Bimmelbahn sieht die Welt noch einmal viel schöner aus. Viele lachen darüber, was mir (Sie ahnen es schon) wurscht ist.

Übrigens ist es mir auch wurscht, obwohl ich Vegetarier bin (sorry, als Germanist musste dieser schlechte Sprachwitz wohl oder übel kommen).

Tun Sie, was Sie wollen, und lassen Sie mehr Wurschtigkeit in Ihr Leben! 

Sie werden es sich selbst danken.

Und wenn Ihnen dieser Artikel,
nachdem Sie ihn gelesen haben,
völlig wurscht ist,
dann herzlichen Glückwunsch!

Mir wurscht!

********************************
 Dankeschön! Auch wenn es in diesem Leben mit dem Tango wohl nix mehr wird...

Wenn du mehr von Christiane lesen möchtest, besuche sie im Internet und such' dir eines ihrer Bücher aus!  www.christiane-boessel.de

Herzliche Grüße und bis bald,
Manuela Bößel

zum neuen Blog: www.tangofish.de

 

Kommentare

  1. Danke, dass ich deine Gedanken lesen durfte :) Sie waren mir nicht wurscht, denn sie haben mich sehr erheitert! Aber du hast sehr recht, mit dem was du schreibst. Sollte man öfter beherzigen. Ich mag Bimmel-Bahnen übrigens auch sehr und kann mit Tango nicht viel anfangen. Dagegen aber mit 80iger Jahre Songs :D
    Herzliche Grüße :)

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  2. Hi pinkyfisch,

    Bimmelbahnfahren ist im Prinzip auch Tango ;)
    Nicht jeder mag sie - da nur für "Eingeweihte" hochspektakulät, man hat einen gemütlichen, nostalgisch-sentimentalen Blick auf die Welt und meistens stinken sie auch ein bissel. Nach Diesel oder so.
    Übrigens, die kroatischen Bähnle heißen "Bimlarbahn" mit rollendem "R" und unbedingt ohne Artikel.
    Danke für deinen Kommentar!
    Hab noch einen schönen Abend,
    Manuela

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Aktualisiert am 15.10.19