Konsumieren oder erschaffen?

Vom Zweck des Tangotanzens - ein sentimentaler Rückblick



Diese sympathisch abgeranzte Vorstadtkneipe war für lange Jahre meine Tangoheimat. Ebi, der Wirt, überließ gegen geringes Entgelt einen Abend pro Woche das Hinterzimmer dem Tangoverein. An anderen Tagen durften sich eine Volkstanzgruppe mit griechischen Kreistänzen und ähnliche Gruppierungen dort vergnügen.

Die Tangoleute waren nicht ins Unsichtbare outgesourced, sondern teilten sich die Tische in den Tanzpausen mit den übrigen Gästen. Lief ein wichtiges Fußballspiel, war das kein Grund, zu Hause zu bleiben, der Bildschirm im Gastraum versorgte die Interessierten mit den entsprechenden Informationen. Man unterhielt sich sogar mit Nichttänzern! Um Zaungäste - du weißt schon, die mit den sehnsüchtig-feuchten Augen - kümmerte sich eine(r) vom Vereinsvorstand, erzählte davon, was wir da so trieben. Und das war höchstverschieden: zig verschiedene Stile, eigenartige Menschen und Erscheinungsformen - viele eigene Arten. Einfach so und selbstverständlich. Das einzige, was unsere Uniform einte, waren die Schwitzflecken.

Auch damals kam oft die Frage, wo man denn Tango lernen könne. Dann zeigte der oder die Befragte auf Paare in Pisten-Aktion: "Das sind Sabine und Peter, dort Ute mit Helmut und da hinten die.... Die unterrichten. Schau sie dir an, wie sie tanzen, welche Art dir gefällt zum Einsteigen. Und später kannst wechseln, wenn magst, oder du kommst zu unserer Praktika und bleibst dann gleich zum Tanzen auf der Milonga. Tangotanzen lernt man am besten beim Tangotanzen." Es war auch gar nicht so selten, dass Neulinge, die schon bei Tango-Erstkontakt mit den Hufen scharrten, gleich auf's Parkett gezogen wurden.

Eines der Hauptziele des Vereins war, den Tango als Kulturgut bekanntzumachen. 
Zu diesem Behufe rekrutierten die Vorstände regelmäßig Freiwillige, die auf Stadtfest-Bühnen oder ähnlichem (z.B. Autoscooterbahn, Kopfsteinpflaster, altes Fabrikgebäude mit Kunstausstellung etc.) öffentlich tanzten. Eine Auswahl nach Können fand dabei nicht statt. Keine Choreografie, keine Vorgaben (außer Spaß zu haben), sondern einfach Musik, und los ging's!

Ein dickes Danke in die Vergangenheit für diese Gelegenheiten, die Nutzung der Kontakte zur Kulturszene, das Technik-Gepfriemel und CD-Geschleppe.

So kamen damals die unterschiedlichsten Menschen zum Tango. Junge, Alte, die dazwischen, mit und ohne Partner, mit den verschiedensten Berufen. In der Öffentlichkeit - ob Kneipe oder Stadtfest - haben sie den Tango gesehen, hineingeschmeckt, manchmal geblieben, manchmal nicht. Die meisten wollten einfach tanzen. Die recht netten Sozialkontakte nahmen wir gerne als Zugabe in Kauf.

Man möge mir verzeihen: Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass ich die Tangozeit Anfang der 2000-er Jahre im Nachklapp nostalgisch-sentimental verkläre, wie die Semmelknödel meiner Großmutter. Doch zieht die Sehnsucht im Herzen, wenn ich heute (genaugenommen im Präcoronicum) auf eine Milonga komme, in der ich konsumieren soll, was ich eigentlich gar nicht will: Schön ordentlich mit gekaufter Tangomode im Kreis um eine (sündteure) Amaryllis herumstöckeln zu einförmiger Musik, die alle möglichst ähnlich empfinden und vertanzen sollten. Dann fühle ich mich in den Kreis der Tangokunden hineinkomplementiert. Nur noch die Wahl zu haben zwischen verschiedenen Standardgerichten, obwohl ich lieber selber kochen würde. Ganz ehrlich: Wäre es zu meinem ersten Tangokontakt im letzten Jahr gekommen, hätte ich dankend abgelehnt, da zu fad.

Kunden zahlen für eine Leistung und entwickeln Ansprüche und vice versa: an den Genuss, das Ambiente, Tanzmöglichkeiten, die "Qualität der anderen Gäste" und die Musik. Die Veranstalter liefern das, was die Kunden mögen sollen.

Kunden bringen Geld. Das ist die Rolle des Kunden. Leistung oder Produkt konsumieren und dafür bezahlen. Das Geschäft soll sich rentieren. Finanziell. (Das merkt man spätestens dann, wenn man als Tänzer versucht, sein Getränk käuflich zu erwerben.) Leidenschaft entwickelt sich zum Broterwerb - und ich versteh das ja - ein Unternehmen muss mehr abwerfen als die Unkosten. Darum gibt es ja diese standardisierten Kurse, Großevents, Reisen, und alles das, was die Kunden brauchen sollen wie Schuhe oder Klamotten. Auf den breiten Buckel des Tangos lassen sich zusätzlich Achtsamkeitstraining, Paartherapie oder "Führen und Folgen-Seminare für Führungskräfte" und ähnliches packeln. Dadurch kann man auch an zahlungsfreudigen Nichttänzern mit dem Tango verdienen. Aber muss der Tango unbedingt einen Zweck haben, der in Folge zwingend geldisch umgesetzt wird? *** Hier wurde ein Fluch zensiert.***
"Vom Tango leben" verliert dann leider den Aspekt der Seelennahrung.

Ist der Tango Geschäft, kommt Konkurrenz. Größer, schöner, besser, noch authentischer, noch argentininscher oder was auch immer an Steigerungsformen möglich ist. Für die Kunden wird ein frischer Bedarf geschaffen an immer neuen Produkten und Leistungen. Diese Art der Beutelschneiderei ist leider nicht tangospezifisch: Früher wurde z.B. "gewandert" mit einem Wurstbrot, Regenkittel und Karte im Rucksack. Heute staune ich über die Unmenge an sündteuren Ausrüstungsgegenständen, die du zum "Trecking" bzw. "Bushcrafting" unbedingt brauchst. Sonst tot?

Die zahlreichen Hilfsmittel und Angebote vermitteln den Eindruck, der Kunde könne es nicht ohne professionelle Hilfe schaffen. Selbstbewusste Eigeninitiative, Kreativität und Lust an der Improvisation können sich in einem so gedüngten Beet nur schwer entwickeln. Außer du wirst Kunde an einem Tangolehrer-oder DJ-Ausbildungs-Institut. Dann wirst du aber das süße Pflänzchen mit oben genannten Eigenschaften dazu nutzen, dein Geschäft am Laufen zu halten.

Ich will kein Tango-Kunde sein.

Zurück zur Semmelknödel-Nostalgia: Damals waren wir keine "Kunden". Keine Tango-Konsumenten, sondern "den-Tango-im-Moment-Verkörperer". Miteinander haben wir "geliefert" - mehr gegeben als genommen. Wir beteiligten uns an den Kosten, die entstehen, wenn man etwas gestaltet. Am meisten investiert man dabei Zeit, Herzblut, Schweiß. Und a bissele Geld: fair, sozialdemokratisch.

Vereinzelt gibt es ja noch Biosphärenreservate für uns altmodisches Tangogemüse, wo wir - wie früher - im Kollektiv echte Magie erschaffen dürfen: Augenblicke. Glitzern und Sehnsucht. Seelen-Schwitzen. Begegnungen. Lebenslust. Zweckfrei. Alles vergänglich, nix bleibt. Nur die Erinnerung. Das macht dieses Gefühl so unschätzbar wertvoll.

Das kannst du nicht kaufen. 
Mit keinem Geld der Welt.
Verkaufen schon gar nicht.

Ich bin so lange dabei, dass ich die Entwicklung von einer Gruppe "(Sub-)Kulturschaffender" zum "Tangogeschäft" miterlebt habe. Für mich stellt sich nicht die Frage, ob wir "zurück" sollen in die Vergangenheit. Heut' ist's, wie's ist: ein bissele Kundenerhaltungs-Gezappel im Corona-Tangostopp, ansonsten Stille. Tango im Regenerationsschlaf?

Mir ist auch klar, dass viele Tangomenschen unseren Tanz nur aus der "Kundenperspektive" der letzten Jahre kennen, die Situation deshalb mangels Alternativideen so akzeptieren, wie sie ist. Egal, wie lange du schon tanzt, auch DU bist Teil der Szene und darfst mitdenken und mitreden, wie du deine Tangozukunft gerne haben möchtest. Aber nicht unreflektiert Tangolehreransichten nachplappern, gell?!

Vielleicht ist die momentane Pause gut, um darüber nachzudenken, in welcher Rolle wir (nicht nur als Tänzer) in Zukunft agieren möchten: als zahlende Kunden oder kreativ Gestaltende schöner,  völlig zweckfreier Momente? Was wollen wir wo und wie investieren?
Muss alles, was schön ist, Geld kosten oder bringen, um etwas wert zu sein?

Meine Wahl habe ich schon längst getroffen.

(Und akzeptiert, dass ich die Semmelknödelimprovisation niemals so hinbringen werde wie meine Oma.)


Herzliche Grüße,
Manuela 

zum neuen Blog: www.tangofish.de

Kommentare

  1. Ich habe mich vom Tänzer zum DJ und auch zum zum Veranstalter entwickelt - in erstaunlich kurzer Zeit. Und ich würde sogar lehren, wenn das denn irgendwem helfen würde.
    Aber ich habe, will und werde mich von Tango nicht finanziell abhängig machen - weil mir dann das verloren geht, was Tango für mich aus macht- die Lust daran.
    Wenn ich dennoch dränge, hoffe, den Normalbetrieb bald wieder aufnehmen zu können - dann weil die Sucht mich treibt.
    Ansonsten: Zustimung!
    Aber auch die (wertvolle) Erkenntnis, dass ich mich als unabhängiger Veranstalter von dem Zirkus, den du beschreibst (und den ich auch erkenne) längst irgendwie unabhängig gemacht habe.

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    1. Lieber CarstenB,

      danke und es freut mich wirklich, dass es doch immer wieder Leute gibt, die ihre Leidenschaften eben nicht zu Geld machen möchten - einfach den Spaß an der Freud' kultivieren.

      Dass mich niemand falsch versteht: Ich finde es trotzdem absolut wichtig, dass man sich als Ko-Tänzer an den Kosten (Raum, Musik, Getränke etc.) beteiligt.

      Ich halte dir ganz fest die Daumen, dass die Wiederaufnahme nicht mehr zu lange dauert und dass alles gut, in deinem Sinne läuft. Erhalte dir auch weiterhin so mutig die Tango-Lust, bitte! Darfst selbige auch gerne streuen - total viral, analog und digital.

      Herzliche Grüße
      Manuela

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  2. Jürgen Kühne2. Juni 2020 um 20:59

    Tango wird leider immer mehr zum Geschäft, Classes, Workshops, Practicas, Reisen, Festivals, Marathons, Encuentros. Man wird als Tangokunde herumgejagt. Überall dann noch Privatstunden. Tango als Geschäftsmodell. Es scheint gar nicht mehr darum zu gehen, dir Tango beizubringen oder Tanzmöglichkeiten zu schaffen, sondern damit Geld zu verdienen

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    1. Lieber Jürgen Kühne,

      ich meine, man könnte es noch spitzer formulieren: Tango IST oft Geschäft. Ob wir als das Tänzer das weiter so haben wollen, liegt an uns. Wir können (dürfen?) entscheiden. Zur Konsum-Jagd gehören immer zwei: Der Jäger und ein Wesen, das sich jagen lässt.

      Herzliche Grüße
      Manuela

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  3. Workshops, Encuentros, Pequenas,'sexy' ueberteuerte Tangomode und sonstiger Tango- Kommerz - wer es braucht : bitteschoen! Auch gibt es in unserem Raum (Saar/Lor/Lux) viele engagierte Amateure im wahrsten Sinn des Wortes, deren Milongas wir regelmäßig besuchen. Es lebe der Tango!


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    1. Liebe Monika Herz,

      danke für deinen Kommentar. Ja, es gibt sie noch, die nichtkommerziellen Veranstaltungen, die ohne Chichi-Geckersmeckers auskommen. Und auch diese können ohne Gäste nicht überleben. Also bitte, bitte weiter hegen und pflegen. Als Dankeschön kann man neben Kostenbeteiligung auch Freudeglitzer auf dem Parkett verteilen und damit die Milonga ideel versilbern. Wertschätzung von Herzen eben.

      Herzliche Grüße
      Manuela

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  4. Liebe Manuela, dein Text spricht mich emotional sehr an. Ich glaube, die letzte Steigerung davon, etwas an sich Seelenvolles zum Konsumgut zu degradieren, ist käuflicher Sex - aber das ist meine ganz persönliche Meinung. Mich stört so einiges am Tango-"Geschäft", vieles wurde schon genannt. Beispielhaft, wenn auch vielleicht banal, nenne ich mal das Besitzen wunderschöner Tangoschuhe in mehrfacher Auführung, die ich vor allem an anderen Frauen bewundere, da ich mir so was nicht leisten kann. Geschweige denn teure Tango-Urlaube oder dergleichen luxuriöse Geschichten. Trotzdem habe ich nicht nur auf Milongas gelernt - wobei das wirklich unterschätzt wird - sondern durch Unterricht bei tollen Lehrer*innen sehr profitiert. Und dafür auch Geld bezahlt, was in meinem Rahmen möglich war. Ich würde behaupten, dass auch alle meine Tanzpartner*innen etwas davon haben, weil ich nicht mehr derart ahnungslos herumtappse wie am Anfang. Und auch ich bin als DJ mit einem Fuß inzwischen im "Geschäft". Da allerdings hatte ich das Glück, dies quasi als Naturtalent und persönlich betreut von einer erfahrenen Person ganz praktisch lernen zu dürfen. Glück gehabt vielleicht. Und auch ich lechze manchmal nach Milongas, auf denen es nicht nur Glückssache ist, ob ich tangosatt nach Hause gehe. Am Ende aber bin ich überzeugt, dass die Essenz einer erfüllten Tango-Begegnung nicht das Ergebnis erkaufter Tangokompetenz ist, sondern die Fähigkeit zu Genuß und Freude in der Umarmung. Ganz liebe Grüße von Dana

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    1. Liebe Dana Schuster,

      danke für deinen Kommentar! Du sprichst einen sehr wichtigen Aspekt an: Wer kann es sich leisten, Tango zu tanzen?

      Ich sehe in der Szene auch diese Entwicklung, die mir nicht so sehr schmeckt. Wird Tango immer mehr zu einem exklusiven Hobby einer elitären Gruppe, die sich teure Reisen und Ausrüstungsgegenstände leisten können?

      Da passen Geringverdiener, Studenten o.ä. nicht hinein.

      Kann Tango-Kultur in einer homogenen Gesellschaftschicht entstehen, in der existenzielle Sorgen und Nöte meist gar nicht mehr vorkommen? Obwohl der Tango doch so oft davon erzählt? Was ist mit frischem Blut? Und neuen Ideen?

      Werden Non-Profit-Milongas (und Minimal-Profit-Veranstaltungen) dadurch verdrängt? Muss das sein?

      Und was bleibt vom Tango, wenn keine Wahl mehr bleibt?

      Herzlich (und sehr nachdenklich)
      Manuela

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Aktualisiert am 15.10.19