Coach-Potatoes: Gastbeitrag von Gerhard Riedl



Muss man wirklich ALLES im Leben unter fachlicher Anleitung lernen? 

Gut, ich sehe schon ein, dass gewisse handwerkliche Fähigkeiten mit Anleitung, Rückmeldung und vielleicht sogar Kritik leichter entwickelt werden können - Lernen von einem Meister. Oder einer Meisterin. Im Beruf oder Tätigkeiten, die ein gewisses Geschick und Routine erfordern, ist das bestimmt hilfreich.

Aber bei so "ganz normalen" Aktionen habe ich doch Zweifel, ob es eines Experten bedarf. Haben wir Essen, Schlafen, Spazierengehen und unser Leben (selber) meistern einfach verlernt? Warum können wir das nicht mehr ohne Coach? Oder wollen uns da zahlreiche Personen etwa Wissen teuer verkaufen, das du von deiner Oma gratis bekommen könntest?

Bloggerkollege Gerhard Riedl schenkt uns seine Überlegungen zu diesem Thema. 
Merci und Bühne frei!
*****


Coach-Potatoes


„Couch-Potato (…) ist das Klischee einer Person, die einen Großteil ihrer Freizeit auf einem Sofa oder einem Sessel mit Fernsehen, Junkfood-Essen und Biertrinken verbringt. (…) Im übertragenen Sinne werden mit dem Begriff auch Personen gekennzeichnet, denen es an Eigeninitiative mangelt und die nur schwer für eine Anstrengung bzw. Herausforderung zu begeistern sind, insbesondere nicht für körperliche Aktivitäten.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Couch-Potato

Man lernt wirklich nie aus: Unter „Waldbaden“ hätte ich mir bislang höchstens das Schwimmen in einem verträumten Waldsee vorgestellt. Ein Hinweis der hiesigen Bloggerin Manuela Bößel belehrte mich allerdings eines Besseren: Unter dem Titel „Im Wald baden“ hat der Autor Jörg Meier ein Buch herausgebracht, welches dem „Heilpfad zu Glück und Gesundheit“ gewidmet ist:

Jeder, so der Schreiber, könne „die Gesundheit aus dem Wald für sich nutzen“: Die dortige Luft sei „reich an pflanzlichen Botenstoffen, den sogenannten Phytonziden. Diese können den Blutdruck sowie Stresspegel senken und laut japanischen Studien bei Krebs und Diabetes helfen, innere Ruhe, ein starkes Immunsystem und erholsamen Schlaf befördern.

Öh, wer jetzt – Phytonzide? Trotz eigenen Biologie-Studiums nie gehört! Mal schnell bei „Spektrum“ nachgeschlagen: „Phytoantibiotika, wenig gebräuchliche Bezeichnung für antibiotisch wirksame Substanzen aus Pflanzen, z.B. Senfölglykoside, Phytoalexine, etherische Öle usw.
https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/phytonzide/51676

Oder doch nicht? „Besonders Bäume sind in der Lage eine Bakterie abzugeben, die sich ‚Phytonzide‘ nennt. Und genau um diese Bakterie handelt es sich, die uns Menschen gut tut, wenn wir einen Waldspaziergang unternehmen.
https://www.epochtimes.de/gesundheit/ratgeber/die-kraft-der-baeume-und-das-waldbaden-a1306462.html#

Na ja – ob nun Botenstoff, Antibiotikum oder „Bakterie“ – gesund ist Waldluft allemal. Wusste schon mein Vater, der dieses Lebenselixier fachlich wohl unkorrekt als „ozonreich“ bezeichnete. Japanische Studien hätten nun aber eindeutige Belege erbracht, so Autor Meier, und nannten das Konzept „Shinrin Yoku“, was wörtlich „Waldbaden“ heiße. Mehr noch: Selber sei er nicht nur „Coach für Persönlichkeitsentwicklung“, sondern auch noch „der erste deutsche Waldcoach“.
https://www.droemer-knaur.de/buch/9595953/im-wald-baden

Spätestens ab dem Punkt wird das Ganze satirewürdig: Meine (leider viel zu seltenen) Waldspaziergänge habe ich bislang völlig eigenständig unternommen und nie das Bedürfnis nach einem „Waldcoach“ empfunden (ob nun dem ersten oder letzten), der mir literarisch den „von ihm entwickelten Shinrin-Yoku-Pfad“ weist. Inzwischen aber ist unangeleitetes Laufen durch die Natur offenbar nicht mehr empfehlenswert: Wie ein Blick bei „Amazon“ zeigt, gibt es bereits ein gutes Dutzend „Waldbade-Anleitungen“.
https://www.amazon.de/Im-Wald-baden-Heilpfad-Gesundheit/dp/3426658364

Anscheinend ist heute kaum noch jemand in der Lage, eigenständig gewisse Fähigkeiten zu erwerben: Ob Business, Tanz, Waldspaziergänge oder demnächst wohl Nasebohren – ein Coach muss her!

Ein Artikel der „Welt“ trägt den bezeichnenden Titel „Das Coaching-Siegel ist ein teures Muster ohne Wert“: Über 300 Coaching-Ausbildungen gebe es in Deutschland, mit Preisen bis zu mehreren tausend Euro, doch die wenigsten seien wissenschaftlich fundiert: Gerade einmal 4 Prozent vermelde eine Studie von Siegfried Greif, Professor für Psychologie an der Universität Osnabrück.

Ursprünglich im Sport beheimatet, wo das Wort schlicht den Trainer bezeichnet, sei das Konzept Ende der 1980-er Jahre auf das Berufsleben übertragen worden. Inzwischen scheint es sich auf alle Arten menschlicher Betätigungen auszudehnen. (Anmerkung der Setzerin: auch haustierische!)

Da „Coach“ (mit welchen Beinamen auch immer) keine staatlich geschützte Berufsbezeichnung ist, hagelt es Zertifikate von mehr als 20 Coaching-Verbänden: „Qualifikationshoheit“ bedeutet hier Marktanteil!

Längst aber sei der Markt übersättigt, alleine davon leben könnten die wenigsten: Laut einer Studie erwirtschafte mehr als die Hälfte der befragten Coaches maximal ein Viertel ihres Lebensunterhaltes damit. Ein Ausweg sei natürlich, selber Coaching-Ausbildungen anzubieten: „Schließlich ist es wesentlich lukrativer, von 20 Teilnehmern 4000 Euro Kursgebühren zu kassieren als mühsam Coaching-Klienten zu akquirieren.

Als Facebook-Nutzer mache ich ähnliche Erfahrungen: Ständig erreichen mich Werbeanzeigen mit der unvergleichlichen Methode, mir Kunden für mein Business zu verschaffen. Ich frage mich halt, warum die Anbieter ein solches lukratives Geschäft nicht selber machen, statt es anderen anzubieten…

Nicht einmal über die sinnvolle Dauer einer Coaching-Ausbildung herrsche Einigkeit. Versuche der Verbände, sich auf mindestens 150 Stunden zu einigen, seien gescheitert. Die Stiftung Warentest dagegen hält 250 Stunden Präsenzunterricht (verteilt auf ein Jahr) für erforderlich. Wohl kaum eine Coach-Ausbildung in Deutschland dürfte diesen Standards entsprechen!
https://www.welt.de/wirtschaft/karriere/bildung/article125832508/Das-Coaching-Siegel-ist-ein-teures-Muster-ohne-Wert.html

Zur juristisch verworrenen Seite:

Die breite Verwendung des Begriffes ‚Coach‘ begründet sich darin, dass er in Deutschland nicht gesetzlich geschützt ist und keine gesetzlichen Anforderungen an die Führung dieser Bezeichnung geknüpft sind. Damit kann sich jeder ‚Coach‘ nennen, eine Vielzahl von Coachtätigkeiten erbringen und sich weiterbilden (ausbilden). Dass der Gesetzgeber ein einheitliches Bild des ‚Coach‘ und einheitliche Anforderungen an seine Qualität bislang nicht geschaffen hat, wirkt sich sowohl auf Anbieter- als auch auf Nachfragerseite aus.“

„Unabhängig vom Vorliegen einer Heilpraktikererlaubnis darf ein Coach folgende Berufsbezeichnungen verwenden: Coach, Persönlichkeitstrainer, Lebensberatung, Kommunikationstrainer, Neurolinguistisches Programmieren (NLP), Gestalttherapie und Gesprächstherapie. Dagegen unzulässig sind Bezeichnungen wie Psychotherapeut, psychologischer Berater, Spezialist für Psychotherapie / (tiefen)psychologische Techniken, Psychotherapeut (zugelassen nach dem HeilprG) und Heilpraktiker (Psychotherapeut).
https://www.anwalt.de/rechtstipps/coach-ein-berufsbild-ohne-gesetzliche-norm_028150.html

Man kann also nur dringend raten, sich nicht von irgendwelchen „Coach-Fantasiebezeichnungen“ blenden zu lassen. Wieviel Ausbildung und Fachwissen jeweils dahinterstecken, ist oft schwer zu beurteilen.

Auch im Tangobereich macht man mit Coaches, die sich hier „Tangolehrer“ nennen, relativ viel Kohle – und erst recht mit einer „Tangolehrer-Ausbildung“, wo man oft für zirka 100 Stunden um die 2000 € berappen muss. Auch hier gibt es für die Qualifikation des Lehrpersonals kaum verlässliche Kriterien, schon gar keine staatlich anerkannten.
http://milongafuehrer.blogspot.com/2016/02/lieber-die-puppen-tanzen-lassen.html

Für mich werden hier unterschiedliche Gebiete miteinander vermengt: Keiner bezweifelt, dass man für Berufe wie Arzt, Ingenieur oder Konditor eine nachprüfbare Qualifikation durch öffentlich anerkanntes Lehrpersonal benötigt. Aber für Freizeitbeschäftigungen wie Waldspaziergänge oder Tanzen?

Vielleicht wäre es wirklich einmal gut, sich an einen unmodernen Begriff zu erinnern: Autodidakt. Die Herausgeberin dieser Seite, Manuela Bößel, ist hier ein gutes Beispiel: Ihr Krankenschwestern-Examen hat sie zwar nach der vorgeschriebenen Berufsausbildung abgelegt, ihre Heilpraktiker-Prüfung allerdings auf der Basis eines Selbststudiums. In Tangokursen sucht man sie vergeblich – und dass sie in diesem Tanz inzwischen auch sehr gut führen kann, liegt nicht an irgendeinem Unterricht, sondern schlicht am eigenen Bemühen nach dem Prinzip „trial and error“. Und mehr Spaß macht es ihr auch…

Aber offenbar ist es ein Zug der Zeit, sich höchstens vom völlig inaktiven „Couch-Potato“ zum nicht wesentlich rührigeren „Coach-Potato“ zu entwickeln, sich mithin die gewünschten Fähigkeiten auf dem Silbertablett servieren zu lassen. Tja, Hunde, die man zum Jagen tragen muss, bellen vielleicht, zum Beißen aber reicht es kaum.

Doch wollen wir uns von den modernen Entwicklungen nicht völlig abkapseln! Daher, zumindest für die weiblichen Leser, ein esoterisch-tänzerisches Angebot (hinterher aber unbedingt noch zum Waldbaden!):



Quelle: https://lebenstanz.com/

*****
Wie wär's mit: Einfach mal machen! Beim Spazierengehen sind die Möglichkeiten des Scheiterns eher gering. (Nach wissenschaftlichen Beweisen habe ich allerdings nicht gesucht.)

Herzliche Grüße,
Manuela

zum neuen Blog: www.tangofish.de

Kommentare

  1. Tja, moderne Zeiten ;-)
    Diesbzgl quasi "vom Glauben abgefallen" bin ich schon vor so 30 bis 40 Jahren, als ich im TV einen Bericht über eine Dame sah, bei der Frauen lernen (und üben) konnten, sich selbst zu befriedigen. Seitdem muss ich wohl ein Schleudertrauma vom Kopfschütteln haben ...

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  2. Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.

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    1. Dieser Kommentar wurde leider namenlos eingestellt. Vielleicht nochmal mit Namensnennung probieren?
      Grüße, Manuela

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Aktualisiert am 15.10.19