Vor-Ahnen-Einmischung



Wieso brennt in meiner Wohnung Licht? Es ist schon finster, der Winter hat sich fest eingenistet in landschaftliche Tageszeiten und Gemüter. Ich schultere die schwere Tasche mit den Einkäufen, sperre mein Auto ab und stapfe durch die schneematschige Wiese zur Haustüre. Wieso ist der Postkasten ratzeputz leer? Kein Stapel Schinkenblättchen wie jede Woche am Montag?

Kicherndes Gemurmel fließt mir die Stiege hinab entgegen, gewürzt mit nostalgischem Duft warmen Butterschmalzes. Aha, die Nachbarin feiert schon wieder. Hoffentlich nicht zu lange, ich mag heut' nur noch Tatort und mein' Ruh'.

Ich kann gerade noch den Schlüssel ins Schloss der Tür stecken, bevor selbige aufgerissen wird. Eine Hand packt mich und zieht mich herein. Butterschmalz UND Reiberdatschi! Und Apfelmus! Was ist denn hier los? Eine Horde Menschen (?), zum Teil recht eigenartig gewandet (siehe Bild, danke Smartphone) hockt verteilt auf die wenigen Sitzgelegenheiten in meiner Singlewohnung, fröhlich plaudernd, zum Teil ein wenig wellig an den Erscheinungsrändern. Andere wirken transparent fast bis zur Unsichtbarkeit. Ein dicker Mann blättert versunken in meinem Aldikatalog. Die Handbesitzerin nimmt mir Tasche und Jacke ab, hängt beides ordentlich an einem Lufthaken auf und hält mir einen Teller – meinen Teller! – mit  knusprigem Kartoffelgebäck unter die Nase. Sie ähnelt vage einer Frau auf diesen zickzackrandigen Schwarzweiß-Fotos, die meine Mutter schon seit Jahren aussortieren möchte. Oder beschriften. Die Versionen-Nennung ist stimmungsabhängig.

Das kittelbeschürzte Trumm Weib teilt mir mit, dass man heute den Dia de los Muertos nachzufeiern gedenke. Und zwar bei mir. Aha. Man habe sogar die Anderen, die kreuzbraven, unlustigen Protestanten überreden können. Diese stehen verschüchtert im Flur und trauen sich nicht, ihre Farben einzublenden. Der Buddha grinst rosarot. Mein Einwand bezüglich des heutigen Datums wischt sie beiseite. Fasching ginge auch, außerdem hätten sie da alle mal frei. Ich solle erstmal was essen. Ein vernünftiger Vorschlag. Sind ja eh meine (!) Reiberdatschi aus der Gefriertruhe.

Zigarrenrauch und Kölnisch Wasser, zwei leichtbekleidete Frollein im Spagat über Möbelstücken, einer hat den Wein gefunden. Er gießt ihn in leere Marmeladengläser, die er verteilt. Großes Hallo und Prost! Diverse Kinder mit und ohne Ball. Und ich denke apfelmus-stippend über Haftpflichtversicherungs-Angelegenheiten nach.

Eine winzige, graue Frau aus der Fraktion der Braven schleicht herein. Hand in Hand mit einem, der sich als eine Art Schutzengel verkleidet hat: schwarze Zausellocken, dunkle Augen mit unverschämt langen Wimpern, auf dem Hemdrücken eine flügelartige Konstruktion aus Stanniolpapier. Die Schnieke mit dem hübschen Schmuck erinnert an meine Oma, ist aber viel jünger. Sie schiebt eine Tango-CD in die Anlage, klatscht in die Hände und ruft zum Tanz. Und nach einem sehr kurzen Augenblick gleicht meine Wohnung – der Hort meiner Sehnsucht nach Ruhe – einer wurrligen Milonga. Mit Códigos halten sich die Herrschaften nicht auf. Alle tanzen mit allen, Männer, Frauen und die dazwischen – egal. Man zieht mich mit auf die improvisierte Tanzfläche und reicht mich wirbelnd von einem zum nächsten, bis ich nicht mehr weiß, wie mir geschieht, schwindlig in Leib und Seele.

Irgendwann, nach Minuten oder Stunden, schlägt die Kirchturmuhr. Die Cumparsita verstummt dramaturgisch gesehen optimal mit dem letzten Dong. Zufrieden erschöpft lassen sich meine Besucher dort fallen, wo sie gerade stehen. Die Fenster sind beschlagen. Der Engelartige mit den langen Wimpern malt ein Herz auf die Scheibe. Ich öffne es, das Herz verblasst, kalte Nachtluft und samtige Schwärze kriechen herein.

„Schnaps ist Schnaps und Geld ist Geld!“, verkündet die Rädelsführerin, die mich hereingelassen hat. Man sei ja nicht nur zum Vergnügen da! Einer der Sofasitzer überreicht mir einen handbeschriebenen Zettel, eine Liste mit Forderungen:

TOP 1: Die Bagage wünscht ein Feriendomizil in Form eines Geisterhäusleins am (Bild vom) Comer See, dem wunderbar kitschigen Ölschinken, der im Schlafzimmer hängt. Dann könnten die Heimsuchungen einfach besser logistisch organisiert werden: mit Reservierungen und so und nicht alle gleichzeitig. Ich sei ja schließlich nicht die einzig geistisch zu Bedienende. Okay, darauf kann ich mich einlassen, da Vollpension mit Bettenmachen oder Handtuchversorgung nicht nötig sei. Gemaltes Geisterfutter reiche, sowie hin und wieder ein Räucherstäbchen. Oder Teelicht. LED wäre auch genehm wegen Brandschutz.

TOP 2 der Liste macht mir allerdings mehr Probleme: „Die Einbeziehung Peter Ripotas transgenerationaler Einflüsse in unserem Buchprojekt über Männer und Frauen“. Eine „rein individualpsychologische Betrachtung“ sei Bockmist. Und für mich wären sie ja schon da – und zwar (fast) alle! – um mir beim Schreiben zu helfen. Sie hätten extra meine Schwester (Germanistin M.A.) gebeten, den Wunsch in Akademiker-Sprech zu übersetzen, um es dem Ripota schmackhaft zu machen. Mit „Einbeziehung transgenerationaler Einflüsse“ meinen sie konkret, gemeinsam mit seinen Ahnen Party zu machen. Mit Tango, Wein und Reiberdatschi!

Dass ich das Ansinnen doch ziemlich übergriffig finde, geht der Gesellschaft am A... vorbei. Sie sind von der Idee begeistert. Ich auch, aber nicht im gängigen Wortsinn. Ent-geisterung wär mir jetzt lieber. Nicht alles, worüber einer nicht sprechen mag, ist eine „partielle Amnesie“ – manche Angelegenheiten sind einfach PRIVAT! „Privat!“, da lacht die Bagage. Ich solle mich nicht so anstellen. Und überhaupts, ob ich denn meine eigenen Texte nicht kenne? Hahah, privat....

Wieso sie überhaupt von unserem Schaffen wissen? Die Druckdateien habe ich erst vor ein paar Tagen hochgeladen. Internet und so, haha, das sei doch eine famose Geisterwelt! Freilich wären sie dort unterwegs! Aha, unser Buch scheint bei Amazon schon gelistet zu sein.

Famoses weltweites Netz! Woher hätten sie denn sonst solche  G'scheithaferl-Worte wie „Amnesie“? Ich „Schätzle“ solle doch nicht so naiv sein. Allerdings rennen die Reisenden dort nicht mit Namensschildchen umher. Sonst hätten sie die Geister-Familia vom Ripota schon längst selber gefunden und kontaktiert.

Das wird mir jetzt alles zu viel. Ich gehe ins Bett. Ohne Tatort. Soll die Mischpoke machen, was sie will.

Beim Frühstückskaffee am nächsten Morgen checke ich wie immer meinen E-Mail Briefkasten. Ganz in Ruhe, allein, keiner da. In „gesendet“ liegt allerdings eine Nachricht an meinen geschätzten Co-Autor, die mich fast meinen Kaffee wieder ausspucken lässt:

Werter Peter Ripota,
mir drängt sich der Eindruck auf, dass wir eine Menge unbewusster Verhaltensweisen von unseren Ahnen geerbt haben, auch was den Umgang zwischen Männern und Frauen betrifft. Das haben wir gar nicht bearbeitet! (Stichwort Epigenetik, siehe Teuschel „Der Ahnenfaktor: Das emotionale Familienerbe als Auftrag und Chance“)
Oje! Was sollen wir tun? Es ist doch schon im Verkauf! So eine Schande!
Herzliche Grüße, Manu


Während ich Blut und Wasser schwitzend überlege, wie ich aus der Nummer wieder einigermaßen heil rauskomme, klingelt der Postbote. Der Ripota steht unter Naturschutz! Dem darf man doch so nicht kommen, das mag er gar nicht... Mist, jetzt hab' ich meinen Kaffee verschüttet.

Im Päckle steckt das erste Exemplar unseres neuen Buchs. Schau!

Männer führen, Frauen folgen? 

Geschlechterbeziehungen im echten Leben und im Tango
von Peter Ripota & Manuela Bößel

<image article>im-prinzip-tango

Wie schön: Es scheint in Ordnung zu sein: auf den ersten Blick keine fehlenden Seiten, fiese Fehler oder sonstige Peinlichkeitskatastrophen. Soll sich's die Geister-Bagage doch im Internet bestellen. Jetzt ist es fertig. Und ich bin stolz drauf. Wären sie halt pünktlich gekommen zum Dia de los Muertos...

Meine Restempörung schmilzt zumindestens ein bissel. Irgendwie spielen sie ja doch eine Rolle in meinem echten Leben und im Tango. Der Kaffeekanne lässt sich noch eine Tasse entlocken, die Sonne scheint, der Buddha sitzt wieder dick und fett und unbewegt auf meiner Kommode. Grinsend ohne Rosa. Und mein Reiberdatschi-Vorrat in der Gefriere ist wieder (oder noch?) komplett.

***
ein Outtake aus unserem frisch erschienenen Buch "Männer führen, Frauen folgen - Geschlechterbeziehungen im echten Leben und im Tango" von Peter Ripota & Manuela Bößel
***
Herzliche Grüße,
Manuela 

P.S. Buchbesprechung auf Gerhards Tango-Reort 

zum neuen Blog: www.tangofish.de

Kommentare

  1. Meine Ahnen haben nicht Tango getanzt, jedenfalls nicht die menschlichen. Was kätzische Vorfahren betrifft ... siehe Buch!

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    1. Ich hoffe, lieber Co-Autor, meine Bagage hat dich nicht heimgesucht. Wir haben hier ein recht flinkes Netz. Das wär mir jetzt wirklich arg... Streu vorsichtshalber ein bissel Salz auf die Türschwelle! Hühnerklaue am Türstock geht auch. LG Manuela

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Aktualisiert am 15.10.19