Das Trippeln, der Tango und die Angst

Warum Ängste die Balance umschubsen

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Februar 1997: Sepp hat das Tanzen aufgegeben


Der "AWO-Tanztreff für Senioren" ist über den Aufzug leicht zu erreichen. Mein kleiner Sohn wirft sich beherzt in die Lichtschranke, um die Aufzugtüren am Schließen zu hindern, während meine Oma - hochgeschätzte DJane der Veranstaltung - stockbewehrt hinten drein wackelt. Im dritten Stock überholen wir einen Gehwagen mit sehr altem, klitzekleinem Herrn samt Zigarrenwolke im Schlepptau. Er nickt uns freundlich zu, Oma winkt über die Schulter. "Bis gleich, Sepp!"

Das "Gleich" zieht sich noch ein wenig, Oma sortiert derweil ihre Schallplatten in Reih' und Glied und Emmentalerscheiben auf Semmelhälften. Letzten Winter sei er hingefallen, der Sepp, und seitdem hätt' er Angst. Beim Laufen. Und daheim auch. Und überhaupts. Drum ziehe er nächsten Montag um in's Altersheim. Tanzen wolle er nimmer - schad' - so ein guter Tänzer... der Depp.

Sie schüttelt verärgert den Kopf, gießt mir eine Tasse Kaffee ein, versorgt ihren Urenkel mit einem extragroßen Kuchenstück, bevor sie sich an den Stammtisch mit den Tanzveteranen setzt, die noch eine Zahl unter zwanzig im 19-hunderter Geburtsjahr haben. Na ja, eher VeteranINNEN. "Und du lernst fei auch g'scheit tanzen, gell! Das mögen die Mädchen." Urenkel nickt mit großen Augen und vollem Mund.

Keine drei Minuten später drückt sie mir ihren Stock in die Hand und entschwindet auf's Parkett. Sie hält nicht nur sich in veritabler Balance - auch ihren Tanzpartner. Die beiden stauben über die Fläche, überholen die "jungen Hupfer" (im dortigen Sprachgebrauch: die unter 65-Jährigen), kompensieren seine O-Beine und ihre a bissele lahme Hüfte. Und ich staune, zu welch lebensfreudeversprühenden Aktionen Füße dieses Jahrgangs samt zugehöriger Gestelle in der Lage sein können. Hui!

Inzwischen hat auch Sepp die Ziellinie überschritten. Sorgfältig parkt er den Rollator unter dem Garderobenständer, trippelt die paar Schritte zum Tisch und nimmt ächzend neben mir Platz. "Wissen's, Frollein," - kleiner Diener im Sitzen - "wenn mir der Doktor nicht gesagt hätt', ich soll aufpassen, dass ich nimmer hinfall', tät ich Sie zu einem Tänzle bitten. Und jetzt pass ich so auf! Hingefallen bin ich aber seitdem noch öfter als vorher."



Februar 2017: Trippeltango


Wieder ein "Tanztreff", diesmal meine Baustelle: Tango, die Gäste "junge Hupfer" oder unwesentlich jünger. Man trippelt brav in der Ronda. Schneller, beschwingter geht ja nicht, dazu sind die Schritte zu kurz, wachsen wahrscheinlich auch nicht mehr, sind weit über die Pubertät hinaus. Die Musik stammt aus einer Zeit, als die Veteranen (siehe oben) trotz Krieg und anderer Unannehmlichkeiten ihre Jugend feierten. Minischrittchen, voneinander weggeneigte Oberkörper trotz enger Haltung, angespannte Gesichter. Wenn doch in einem Paar mehr Aktion stattfindet, dann selten, hektisch, heuschreckig. So tanzt das Gros der Anwesenden. Wo sind denn die Sahnehäubchen? Wo ist der Genuss geblieben? Die Freude? Locker-lässiger Schabernack? Einfach, weil Tanzen Spaß macht? Mag's der Tango nicht sinnlich? Hm...

Die Tänzerin links von mir findet es blöd, dass man beim Tango immer so hohe Schuhe tragen müsse. Da hat sie immer Angst, umzufallen. Aber die sind halt so schön! Betreten schlinge ich meine schläppchenbekleideten Füße (und meine Tanzlust) um die Stuhlbeine.

Einer von der Stammbelegschaft fordert mich auf. Noch vor dem ersten Stück gesteht er mir flüsternd, dass er sich dies ein Jahr lang nicht getraut hätte - aus Angst, er könne mir nicht genug bieten, einer "so guten Tänzerin". Und ich hätte ja immer einen so tohollen Tänzer dabei. Und außerdem könne ich auch führen. Trotz meiner Beteuerung, dass ich niemanden beiße, schwitzen seine Handflächen. Sein Führungsarm, seine Rückenmuskeln und seine Beine wirken starr. Die Schritte bleiben Schrittelein beim ersten Stück. Aber alles in allem: Nicht schlecht, da steckt entwickelbares Potenzial drin - finde ich - und lächle ermutigend: "Schön! Geht doch, alles gut!" Während der nächsten beiden Tangos singt ihm der dicke, alte Mann schmelzend wenigstens ein paar Ängste aus Leib und Seele. Derart entschwert schweben wir über die Fläche, mit entspannten Füßen - die im Schwabenland bis zur Hüfte reichen - vorüber an den Kleinschrittigen. Überraschte Gesichter am Rande. Wieso glitzert der plötzlich? Der kann ja tanzen!
Eben. Geht doch. 

Die Tanguera zu meiner Rechten erzählt ihrer Freundin von der Runde mit X (ich will hier keine Namen nennen), dem Milonguero viejo, der so toholl (mit Dehnungs-H) tanzt. Sie sieht ihm so(!) gern(!) zu, aber als er sie aufgefordert hat, ist sie fast gestorben vor Angst! Und hat nur noch einen "rechten Sch..." zusammengetanzt.

Wie gut ich dieses Gefühl von früher kenne! Typische  Tangokrise. Anstatt mich in die Arme dieses Traumtangueros zu schmiegen wie eine fette Schnurrkatze, führten meine Füße (im schwäbischen Sinne) ein widerborstig-steifes Eigenleben. Darüber hab' ich mich lange Zeit schwarzgeärgert. Was natürlich alles noch verschlimmert hat. Balance dahin. Angst vor Umfallen. Lässigkeit, Genuss? Adieu!


Angst triggert Verspannung

Verspannung triggert Angst


Über zehn Jahre habe ich gebraucht, um den Zusammenhang zu begreifen zwischen Angst, steifen Beinen, Umfallangst bis zum Sturz. Mit nachlassender Qualität des Erhaltungszustands schafft es ein bejahrtes Gestell in der Regel gar nicht mehr, die steifen Beine auszugleichen. Und stürzt.

Dabei ist es ganz logisch: Stell dir vor, es kommt irgendwas Fürchterliches auf dich zu: ein Säbelzahntiger, die Dogge deines Nachbarn oder deine Schwiegermutter. Die natürliche, einzig sinnvolle Reaktion ist Zurückweichen (Totstellen oder Kämpfen fällt aus. Bringt hier nix). Diese Abfolge ist tief eingebaut in entwicklungsgeschichtlich ganz alten Gehirnbereichen (z.B. Hirnstamm,  Amygdala) und läuft automatisch ab, was bei echter Gefahr ja ganz praktisch ist. Diesen archaischen Hirnteilen ist es erstmal wurscht, ob die Furcht gerechtfertigt ist.

Also rückwärts! Schritte und Oberkörper fort von der Gefahr!

Funktioniert auch bei Glatteis und der Angst auszurutschen.
Oder der Angst, vor dem Supertänzer abzuschmieren.

Auch wenn dein Großhirn jetzt meint, "alles nicht so schlimm" und dich auf die "Gefahr" zu bewegen möchte, muss dein Gestell trotz allem gegen die schon aufgebaute Spannung in Gegenrichtung anarbeiten. Das kostet viel Energie. Dazu sind eh schon angespannte Muskeln schwieriger zu koordinieren. Dann werden deine Schritte tippelig, die Spannung in deiner Rückenlinie steigt, die Knöchel frieren ein. Verkrampfte Füße tun sich sehr schwer, die Informationen an die Gleichgewichtszentrale weiterzuleiten. Deine sichere Balance verabschiedet sich. Die Folge: Umfallangst!

Und damit ist der Teufelskreis angetriggert: Angst - Verkrampfen - Angst - Verkrampfen - Angst - ...

Alternativ kannst du auch bei Verkrampfen einsteigen: Geh ein paar Schritte ganz normal, dann versteinere deine Füße und beobachte die Folgen in Körpergefühl und Gemüt. 


An diesem Punkt der Geschichte gibt es zwei Möglichkeiten:

1. Du bleibst solange im Angstkarussell, bis du wirklich hinfällst. 


Die Spirale führt dich zwar wenig genussvoll, aber zuverlässig zum Schleudersitzausstieg: Hinfallen, dann "musst" du nicht mehr Tango tanzen (für die "jungen Hupfer"). Keine Sorge, das kannst du über Jahre oder Jahrzehnte strecken. Deine Ängste definiert dir dein Großhirn gerne so um, dass du dich nicht mit ihnen beschäftigen musst oder findet Gründe im Außen. Damit lässt sich die Zeit noch verlängern. Wenn Tanz- und Bewegungsgenuss für dich nicht die oberste Priorität bei der Tangomotivation einnimmt, könnte das ein Weg für dich sein. Schließlich nehme ich mir nicht das Recht heraus, deine Gründe zu werten! Oder das, was diverse Pressesprecher verkünden.

Bliebe nur noch die Frage offen, ob die Angst den Tango auf seine momentane "Größe" eingeschrumpft hat oder ob seine trippelschrittige Erscheinungsform eher ängstliche Zeitgenossen anzieht?

Die "Veteranen" wählen als Notausgang gerne den Oberschenkelhalsbruch mit Umzug ins Pflegeheim. Nette Zugaben: Lungenentzündung, dann bald tot.


2. Du kommst mit deinen Ängsten zurecht.


Jeder hat Angst. Alle. Ich auch. Das ist normal.
Angst kommt und - gute Nachricht! - geht.
Dann hast du halt mal Angst. Na und?
Dann tanzt du halt mal verkrampft. Na und?
Spür die Angst, tanz einfach weiter. Weiteratmen.
Dann schnallt deine archaische Zentrale schon, dass keine Lebensgefahr besteht.
Die Angst geht durch dich durch.
Und dann wieder raus.
Raus aus den Füßen: Die Balance ist wieder da!
Und raus aus Leib und Seele.
Dann ist's auch schon wieder gut.

Probier's aus!

Herzliche Grüße und bis bald,
Manuela Bößel

zum neuen Blog: www.tangofish.de

Kommentare

  1. Und was lernen wir daraus? (a) Das Großhirn ist zum Kreuzworträtsellösen erschaffen worden, also ausschalten beim Tango. (b) Die Amygdala kann man auch umprogrammieren - einfach tanzen, die merkt das mit der Zeit schon. Und (c) Verachtet mir die Senioren nicht!

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    1. Lieber Peter,
      schöner könnt' man es nicht zusammenfassen. Danke!
      Herzliche Grüße,
      Manu

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Aktualisiert am 15.10.19