"Erste Liebe" - ein Gastbeitrag von Peter Ripota

Wo sind unsere Jugendträume hinverschwunden?


<image article>im-prinzip-tango-ripota-erste-liebe


Irgendwie scheint sich die Welt doch entschlossen zu haben, nicht endgültig im Winterdunkel zu erstarren: Der Wind bläst erdige Gerüche ins Gemüt, der erste Reiher zieht seine Kreise am Himmel. Für's erste Sprießegrün ist es zwar noch ein wenig zu früh. Trotzdem ermutigt ein Blick aus dem Fenster, die schweren, warmen Stiefel heut an der Garderobe geparkt zu lassen - ohne Gefahr zu laufen, statt je fünf Eisbrocken meine Zehen zu spüren. 

Vor ein paar Tagen ist mir der Schmetterling (siehe Bild) begegnet. Ich war gerührt von seinem (naiven?) Lebensmut. So zu-früh-schwach wie er war, hat er sich auf den Finger nehmen und ganz aus der Nähe betrachten lassen. Seine Flügel knisterten sanft wie Seidenpapier. Der Schmetterling und ich - nur wir beide - standen für ein paar Minuten in einem wärmenden Traum. Zwei Stunden später lag er dann tot unter dem Geländer. Wie soll ich da nicht in Sentimentalität verfallen? 

So wie in Konstantin Weckers "Frühlingslied":
"Frühling werds und ois wui wieder himmelwärts
was is des für a schöner Schmerz
in Bauch und Brust und Herz." 


Anscheinend bin ich nicht die Einzige, die solche Gedanken-Gefühlsgeflimmereien umtreibt:
Peter Ripota hat mir heute diesen wundervollen Text zukommen lassen über die (verlorenen ?) Träume der Jugend und die Liebe und das Leben und all das. Um den Frühlingsblues voll auszukosten, empfehle ich dir Lidia Bordas Version von "Sueño de Juventud" parallel zu hören.  https://www.youtube.com/watch?v=80fl8GSa5Ro

Et voilà! Bühne frei für Peter Ripota! Viel Vergnügen!
Dieser Artikel erscheint zeitgleich in seinen "Notizen aus dem schwarzen Loch".



Erste Liebe

Meine erste Liebe war eine Dame im Alter von ungefähr 3000 Jahren - kein Wunder, dass sie mich nie erhörte. Ihr Name ist "Mathematik". Ich weiß noch, wie ich hungrig am Tor zum Allerheiligsten dieser ewig jungen Dame stand und mit leuchtenden Augen nach einem Eingang suchte. Meist vergebens, denn mein Verstand reichte nicht aus, dass ich auch nur in ihre Nähe gekommen oder gar von ihr erhört worden wäre. So studierte ich Physik. Da sind auch viele Formeln und Ideen, und die Physiker nehmen es nicht ganz so genau wie es die Göttin Mathematik erfordert.

Aber jetzt zur sogenannten "Realität". Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Liebe? War das ein einmaliges Ereignis, das nie wieder erreicht wurde, oder ein Desaster, das hoffentlich nie wieder eintritt? So wie Loriot ging es mir glücklicherweise nicht, der seine erste Liebe (ausschnittsweise) so beschreibt:

Zu Beginn des dritten Grundschuljahres erschien mir im Traum ein Huhn, weiß, mittelgroß und von ungewöhnlich sanfter Wesensart. Eigentlich ging es nur schweigend auf und ab oder saß versonnen neben mir, aber ich fühlte, ein Weiterleben ohne Huhn würde sinnentleert und freudlos sein. Mit Anbruch des Tages verließ mich meine erste große Liebe, um düsterer Verzweiflung Raum zu geben. Nutzlos blieb jahrelange Hühnersuche. Es zeigte sich, dass keines der vielen gebildeten, formschönen Hühner mit dem verlorenen zu vergleichen war.

Vor einiger Zeit fiel mir ein Tagebuch aus meiner Pubertät in die Hände, alles in Stenografie, was meine Mutter aber trotzdem lesen konnte, im Gegensatz zu mir nach mehr als 40 Jahren. Irgendwie gelang es mir dann doch, einiges davon mühsam zu entziffern. Und dabei kam auch meine erste Liebe zum Vorschein, die mich damals völlig unvorbereitet traf, die ich mit ebenso romantisch-gefühlsseligen wie pubertär-kitschigen Worten beschrieb, und die durch eigene Dummheit und Unerfahrenheit endete.

Es hat mich im Nachhinein überrascht, was mich als erstes an ihr faszinierte: Ihre Fähigkeit, meine Fantasie anzuregen und mich in ein Märchenland zu entführen:

Sie fasste meine Fantasie und führte mich behutsam im Zauberteppich ihrer Worte zu jenen fernen Welten, die so nah waren, die Bilder aus den Träumen von der Wirklichkeit, die weite, schöne, einsam-lebendige Welt jenseits der großen Stadt, weit weg vom Rand, wo die Wege enden und das Leben beginnt ... 

Aber wie man mit Frauen umgeht, wusste ich nicht, und die Selbsterkenntnis half wenig:

Ich war klein und unterlegen und voller Hemmungen und voller Furcht vor dem Augenblick der Wahrheit: Ich hatte meine alte Rolle verloren und keine neue gefunden. Ich war ein Hummer, der sich gerade gehäutet hat, eine Schlange ohne Schutz, blind, tastend, die dennoch nicht wagt, ihr Versteck zu verlassen, bis die neue Schale gefestigt ist und sie wieder schützt vor der Härte der Wirklichkeit.

Und weil ich die Zeichen nicht zu deuten wusste - darf ich, will sie, warten oder zupacken? - kam ich zu der schönen, aber nutzlosen Erkenntnis:

Dein Leben reicht so weit wie deine Träume ... und ich hatte zu wenig geträumt.

Die schönsten Stunden waren diejenigen ohne Gedanken an das, was sein könnte oder sollte oder nicht ist:

Wir waren Kinder. Wir waren glücklich. Wir waren so nahe wie Alice und das Reh im Wald des Vergessens, und wir dachten ebensowenig an Vergangenheit oder Zukunft wie sie. Wir wussten zwar, wer wir waren, doch es war nicht so wichtig. Wir waren in unserer kleinen Welt, und es gab keine Ziele und keine Zweifel, kein Hoffen und kein Bangen, keine Erwartung und keine Enttäuschung. Nur die glückliche Geborgenheit zweier Kinder, die eng umschlungen auf die Weite des Meeres hinaus treiben und sich an der Sonne freuen und nicht an morgen denken. Und über die Dummheit der Menschen lachen. Und über sich selber ...

Irgendwann war's dann zu Ende, und auch die Worte eines katholischen Geistlichen, der mich gut kannte, brachten wenig Trost:

Du siehst eine große lange Straße. Viele Menschen gehen auf ihr, und manche kennst du auch. Die Straße verzweigt sich immer. Manche gehen fort, neue kommen. Du gehst mit jemand ein Stück des Weges gemeinsam, und dann ist er fort, und du merkst es gar nicht. Du gehst mit jemand anderen, plauderst mit ihm, und so geht es hin, dein Leben lang, und am Ende blickst du zurück und siehst die Leere und Verlassenheit, und du siehst mit der Klarheit des großen Lichts: Du warst immer einsam. Auch wenn du glaubst, jemand begleitet dich: Den langen Weg gehst du allein. Und doch gibt es eine andere Möglichkeit. Wenn man gemeinsam aufbricht, dann geht man zu zweit - gemeinsam zu neuen Ufern, zu neuen Zielen, zu einem neuen Leben.

Fazit: Die erste Liebe war extrem romantisch, aber ich möchte sowas nicht mehr erleben. Im Vergleich dazu ist die letzte Liebe nicht ganz so romantisch, aber viel erfüllender ...


[Dieser Beitrag erschien ursprünglich auf "Seniorbook".]

Die geheime Pforte zum "Märchenland" muss er wohl trotz allen Irrungen und Wirrungen doch noch gefunden haben. Das weiß ich. Hab mit ihm getanzt. Und beim Tanzen kann man nicht lügen.

Dankeschön, lieber Peter!


Herzliche Grüße und bis bald,
Manuela Bößel

 Der Artikel erscheint auch in Peter Ripotas "Notizen aus dem schwarzen Loch".

zum neuen Blog: www.tangofish.de

Kommentare