Die Floriansjünger der Achtsamkeit
im echten Leben und im Tango
Je mehr Menschen sich an diesen Maßnahmen beteiligen, umso fetter sitzt die gute Achtsamkeit in diversen Foküssen. Und "-küssen" ist ja auch was Feines. Dadurch bleibt sie im Gespräch. Dass bei der gnadenlosen Präsenz-Überschwemmung - es wird ja bald jeder damit begossen - ihr Wesen doch ein bissele verwässert wird, lässt sich kaum verhindern:
der Achtsamkeit erster Schritt
Meist geht es ja darum, (erstmal) die eigene Befindlichkeit zu verbessern. Das ist (erstmal) durchaus legitim. Im Yogakurs runterfahren, Tango tanzen, zu sich kommen, Atmen üben, Seelentröster-Suppe kochen sind unbestritten manchmal lebenswichtige Missionen, um die eigene Gesundheit samt seelischer Verfassung zu verbessern.
Und dann?
Ja, dann bist du halt wieder bei dir.
Und wozu?
Um mit klarem Kopf, ruhigem Bauch und Friede im Herzen dein Leben zu meistern. Oder einfach schön Tango zu tanzen.
Problematisch wird's erst dann, wenn dein Hirn auch mal aus dem Hier und Jetzt raus muss. Zum Beispiel um vergangene Altlasten zu entsorgen, eine Lebensversicherung abzuschließen oder für nächste Woche einzukaufen. Aber keine Sorge, mit ein wenig Übung findest du den Weg zurück.
der Achtsamkeit zweiter Schritt
Da geht es um den liebe- und respektvollen Umgang, um das Wahrnehmen von Bedürfnissen. Und schon klar, das darfst du (erstmal) an dir selber üben. Man müsse den Glaubenssatz ausmerzen, der besagt, dass die Selberkümmerung höchst egoistisch sei. So weit, so gut.
Ich kenne Menschen, die sich wirklich sehr sorgfältig für andere aufopfern - bis an lebensgefährliche Grenzen. Oder darüber hinaus. Manchmal sogar daran sterben. Diese Gruppe beginnt ihre Arbeit mit der Eigen-Achtsamkeit quasi noch unter Null auf der Egoismus-Skala.
Allerdings gibt es auch Zeitgenossen, die sowieso schon hochroutiniert sehr viel Rücksicht für eigene Befindlichkeiten von ihrem Umfeld einfordern:
Themenwechsel bei Unterhaltungen werden ganz selbstverständlich erwartet, weil so Schlimmes regt auf. Das ist unachtsam von den Gesprächsteilnehmern.
Kein eingetuppertes Fleisch darf im WG-Kühlschrank wohnen. Unachtsam, findet der Vegetarier.
Du darfst nicht mehr in deinem Fachgebiet können/wissen als dein Kollege. Weil das beschämt ihn. Unachtsam.
Da dürfen andere Tänzer auf keinen Fall auf der Piste überholen, weil unachtsam. Basta!
Wo wären wir dann auf der Skala?
Und dazwischen?
Isst du in Anwesenheit von Veganern nur Gemüse?
Weist du den Nichtrauch-Apostel eben nicht auf seinen Ranzen und seine Hypertonie-Birne hin?
Sprichst du lieber nicht in gemütlicher Runde von aus deiner Sicht problematischen Verhältnissen, wenn du merkst, dass diese deinen Gesprächspartner über die Maßen aufwühlen würden?
Siehst du davon ab, bei unliebiger Musik zum TJ zu laufen, die so fade ist, dass sie nicht mal einen Brechreiz auslöst? Geschweige denn Tanzlust?
Lässt du es bleiben, die Ronda zu brechen? Bremst lieber den zwingenden Impuls der lebendig-beschwingten Musik in dir und deiner Partnerin aus?
Beschwerst du dich auch nicht beim Veranstalter, wenn dein Tango in ein Zwergenkostüm mit alberner Mütze gezwängt werden soll?
Weil du dich den anderen gegenüber achtsam verhalten möchtest?
Oder sagst du einfach gar nix, weil dann die Frage folgt: "Was hast du überhaupt für ein Problem?" Deine Antwort "Kein Problem, sondern auch Gefühle" würde eh an eine Betonwand knallen. Deine Gefühlsbasis ist halt eine andere. Und darum zu ignorieren. Musst halt fortbleiben. Dein Problem.
Um ein Gefühl für die eigene Egoismus-Skala zu bekommen, wäre ja ein Vergleich nicht ganz verkehrt. Aber das geht halt nur, wenn der Blick über den eigenen Tellerrand erweitert würde:
Ja, es gibt andere Menschen! Die haben auch Wünsche und Träume und Bedürfnisse! Auch wenn sich diese nicht mit deinen decken. Auch wenn du sie nicht nachvollziehen kannst. So heißt's zumindest.
der Achtsamkeit dritter Schritt
Der wird gerne ausgelassen. Hier ist der liebe- und respektvollen Umgang mit anderen Menschen Thema - die Ausweitung über die eigene Person hinaus.
Also genau das, was die Kümmerer (siehe oben) versuchen einzugrenzen. So versuchen sie das richtige Maß zu finden. Einfach um gesund zu werden. Oder zu bleiben. Ganz stille.
Schrammel-Kröten schluckend. Auf die nächste Wild-Milonga hoffend. Trotzdem lächelnd. Höflich bleibend, soweit möglich.
Bleibt die eigene Achtsamkeitsentwicklung allerdings bei Schritt zwei stecken, wird zwar Achtsamkeit eingefordert, aber nicht weitergegeben. Da wird zwar lang und breit über Achtsamkeit geredet, aber gegeben wird nur in homöopathischen Dosen. Oder es wird dem Empfänger gerade soviel Wohlergehen zugestanden, dass er weiter brav seine Funktion erfüllt.
Auch dem Cabeceo wird das Kittelchen der Achtsamkeit verpasst: Er würde die Damen vor Zudringlichkeiten schützen. Dass er die Tangueras in passive Starrhaltung zwingt, damit die Männer befindlichkeitsverbessernd in Ruhe wählen können, ist selbstverständlich nur die ketzerische Außenseitermeinung einer pseudoemanzipierten, unachtsamen Bloggerin.
"Ja, Schatz, freilich darfst du zum Tango." Sonst würde sie ja ungut. Das wär blöd und sie zu nix mehr zu gebrauchen.
"Ja, Schatz, freilich helfe ich dir bei..." Sonst würde sie ihn ja rausschmeißen. Das wär blöd. Da müsste er ja selber Geld verdienen.
"Ja freilich spielen wir auch mal modernen Tango." Einmal im Monat eine Tanda. "Mil pasos" und so ist zwar schon ziemlich abgenudelt, aber grade noch auszuhalten. Unter Schmerzen. Sonst schreibt wieder so ein böser Blogger so böse Sachen.
"Toll, dass du uns eine Mitfahrgelegenheit zur Milonga vermittelst, aber wenn das Ehepaar X kommt, wollen wir nicht. Weil die sind blöd und wir achtsam mit Blog."
"Im Namen der Achtsamkeit! Amen!"
steht dann fettgedruckt auf den Fahnen, welche die Floriansjünger der Achtsamkeit vor sich hertragen.
"Verschon mein Haus, zünd and're an!"
findest du nur im Kleingedruckten.
Als ich Kind war, benutzen die Leute den Begriff "Nächstenliebe". "Achtsamkeit" gab's in prä-internettischen Zeiten noch nicht. Auch keine Blogs, geschweige denn Coachings. Aber einen ganz analogen Verein, der sich die christliche Nächstenliebe dick und fett als Motto auf T-Shirts gedruckt hätte, wenn das damals möglich gewesen wäre. Diese ultrafrommen Bekannten meiner Verwandschaft mochte ich als Kind gar nicht. Die offensiv Nächstenliebenden soffen uns Kindern die alkohol-freie Erdbeer-Bowle weg und sangen fromme Liedlein zur Gitarre. Geschnapselt und geküsst wurde heimlich hinter dem Komposthaufen. Ja, (Fo-)Küsse sind schon eine feine Angelegenheit...
Und die Moral von der Geschicht?
Floriansjünger der Achtsamkeit gibt es genug. Sie sind stark an Mitgliederzahl und Selbstbewusstsein. Unterstützung ist nur selten nötig. Aber du kannst sie ganz leicht von den leisen Achtsamen unterscheiden:
Die erste Gruppe SPRICHT über Achtsamkeit, die zweite Gruppe LEBT sie.
Und zwar ganz: von Schritt eins bis drei.
Das macht den Umgang mit den Achtsamkeits-Lebern so schön. Und gesund. Und überhaupts.
Im echten Leben und im Tango.
Herzliche Grüße,
Manuela
zum neuen Blog: www.tangofish.de
Quellen: Ein dickes Dankeschön an Benita Königbauer, die in ihrem Buch (siehe Link) den wunderbaren Begriff der Floriansjünger kurz vorstellt. Angestachelt durch diese Inspiration entstand mein heutiger Artikel.
http://www.einfach-klarheit-schaffen.de/abenteuer-wunsch-kanzlei/
Liebe Manuela, nur einen Hinweis: Den Begriff "ausmerzen" haben die Nazis erfunden als Synonym für die systematische Vernichtung von Menschen. Auch da gilt es, achtsam zu sein mit der Sprache, die wir verwenden! Danke und viele Grüße, Marietta
AntwortenLöschenDas ist schon klar!
LöschenMan sollte jedoch beachten, dass Manuela sich hier diesen Begriff nicht zu eigen gemacht, sondern (mit Ironie) eine von ihrer Sichtweise abweichende Einstellung angesprochen hat.
Wieder mal ein zutreffender, witzig geschriebener Beitrag!
AntwortenLöschenAm besten gefallen mir das "Zwergenkostüm mit alberner Mütze" und die "Schrammel-Kröten".
Lieber Jochen,
AntwortenLöschendankeschön!
Wenn dir das Zwergenkittele und die Kröten gefallen haben, musst du sie ja kennengelernt haben...
Herzliche Grüße,
Manuela
Herkunft von ausmerzen
AntwortenLöschen[F] Woher stammt das Wort ausmerzen? Hat es etwas mit dem Monatsnamen März zu tun?
[A] Nicht immer ist es möglich, die Herkunft bestimmter Begriffe eindeutig zu ermitteln. So verhält es sich auch mit dem Ausdruck ausmerzen.
Es lassen sich jedoch einige Belege finden, die darauf hindeuten, dass es sich hierbei um ein altes landwirtschaftliches Wort handelt, welches bis ins 18. Jh. ausschließlich im Zusammenhang mit der Schafzucht gebraucht wurde (u. a. L. Röhrich: Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Freiburg 1991). In diesem Fall wird angenommen, dass ein etymologischer Zusammenhang zwischen ausmerzen und dem Monatsnamen März (im Mittelhochdeutschen: merze) besteht, da zu dieser Zeit schwache oder zur Zucht unbrauchbare Schafe (»Merzschafe«) ausgesondert wurden.
Erst Mitte des 18. Jh. setzte sich im Deutschen, in Anlehnung an die lateinische Form Martius, die ä-Schreibung von März durch, welche Bezug auf den römischen Kriegsgott Mars nimmt, nach dem der dritte Monat des Jahres einst benannt wurde.
Das Verb ausmerzen hingegen behielt seine ursprüngliche Schreibweise mit e (vgl. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Berlin 1993).
Seit dem 18. Jh. ging der Begriff dann mehr und mehr in die Alltagssprache über und verlor seinen ursprünglich landwirtschaftlichen Bezug. So unterscheidet sich ausmerzen heute nicht nur in der Orthographie von März, sondern auch der damalige Bedeutungszusammenhang kann nicht mehr ohne Weiteres hergestellt werden. Im Deutschen Universalwörterbuch der Dudenredaktion (Mannheim 2007) finden sich unter dem Eintrag ausmerzen unter anderem Definitionen wie ›ausrotten, vertilgen von z. B. Ungeziefer‹ oder ›stehen gebliebene Fehler im Manuskript als fehlerhaft tilgen, beseitigen, eliminieren‹.
Generell wird jedoch meist darauf verwiesen, dass die Herkunft des Wortes ausmerzen nicht eindeutig zu klären ist. Das Etymologische Wörterbuch des Deutschen verweist beispielsweise darauf, dass ausmerzen durch Präfixbildung zum mittelhochdeutschen merzen (›Handel treiben‹) entstanden sein könnte, im Sinne von ›aus dem Handel ziehen‹. Eine weitere Möglichkeit der Deutung bestünde nach oben genannter Quelle in der Bildung merksen, abgeleitet vom Verb merken, im Sinne von ›kennzeichnen, etwas Auszusonderndes markieren‹.
Als weitere verwandte Wortform soll an dieser Stelle auf das Verb märzen eingegangen werden. Dieses steht im Gegensatz zu ausmerzen auch heute noch in einem eindeutigen Bedeutungszusammenhang mit dem Monat März, was auch durch die Orthographie deutlich wird. So ist es in Oberhessen in einigen Dörfern üblich, dass Frauen im März ihre Kleidungsstücke zum Lüften ans offene Fenster hängen und sie somit auch zur Schau stellen. Von dieser Tradition wurde das Verb märzen abgeleitet (vgl. Südhessisches Wörterbuch, in 6 Bänden, Marburg 1968).
Quelle: Gesellschaft für deutsche Sprache e.V.
Recherche: G. Kaap