Vorweihnachts-Elegie

"Leise bieselt das Reh..."

 

<image article>im-prinzip-tango manuela boessel


Nix ist mit Schnee. Nur trübe Sauwettertage, die lediglich ein paar Stunden mumpfiges Licht versprechen. Hast du die adventliche Entstressung im Griff - also genug "staade" Zeit freigeschaufelt - kann es durchaus sein, dass sich elegische Gedanken ins Kopfkino hineinschleichen: Erinnerungen an traurige Lebensabschnitte, die gerne in und um's Fest der Liebe aufschlagen. Warum müssen die Leut' ausgerechnet in dieser Zeit sterben?

Ein unpünktliches Rauhnachtereignis


Da steht er schon in Nebelfetzen und winkt. Ich biege von der Landstraße auf den Parkplatz ab und lasse ihn einsteigen. Wie immer bringt mein Vater einen Schwung frisch-kühle Waldluft mit und ein liebes Lächeln. Dann fahren wir weiter.
"Bist aber früh dran heuer. Weihnachten war doch noch gar nicht?"
In den Rauhnächten habe er heuer frei und daher eine kleine Reise nach Rimini geplant.

Meistens sitzen wir eine Zeitlang zusammen einträchtig schweigend im Auto, bis seine luftige Erscheinungsform sich mit dem Gesang des italienischen Tenors aus dem Radio vermischt, unsichtbar werdend – bis zum nächsten Treffen. Ich bin so alt wie er damals, als ihn sein erster Herzinfarkt erwischte: 45. Alt genug, meine ich, um ihm die Frage zu stellen, die seit einigen Wochen zwischen den Rippen zwickt:
"Wo ist der Schlüssel?"

Er weiß ganz genau, welchen ich suche. Sagen wollte er es mir bisher nicht. Meine Erinnerungen pflege ich liebevoll sortiert in verschiedenen Schatzkisten aufzubewahren. Jederzeit kann ich sie aufschließen, davon kosten und wieder aufräumen, neu zuordnen oder verträglicher katalogisieren. Bis auf die eine, die seine Beerdigung enthält. Wir sind uns sehr ähnlich, deswegen weiß ich, wie stur er sein kann – so wie im Moment – und ich ärgere mich ein wenig.

"Blutwurst, Braten oder Schnitzel mit Pomm' Fritz? Das ist hier die Frage!", singt er im Duett mit dem Radiotenor. "Erinnerst Dich noch an den Emir und den Scheich? Zahl mer später, gemma gleich?" Sogar der sonst bei mir äußerst verlässlich funktionierende Erinnerungsanker "Was haben wir in Situation X gegessen?" fehlt.

"Ach Baba, sagst mir, wenn ich einmal 76 bin, immer noch, ich wär' zu jung?"
So alt wäre er heute. Endlich kann ich den Lastwagen überholen. Mein Beifahrer spreizt sich im Sitz ein, eine Rolle Leukoplast purzelt aus der Tasche seines Pflegerkasacks.
"Jaja, festgemauert in der Erden..." zitiere ich einen seiner Lieblingssprüche. Wir lachen, ich gebe Gas, wir sausen dahin.
"Volare!" schnulzt der Signore im Radio. Das heißt Fliegen.

"Und? Wo ist der Schlüssel?"
"Nie sollst Du mich befragen...." (ein weiterer Lieblingsspruch, ebenfalls gesungen)

"Ich will halt wissen, wie sie war, deine Beerdigung. Ich will's endlich aufräumen können."
"Ich war doch auch nicht da! Zu viele Leut'... Und tanzen hätt' man auch nicht dürfen."
Typisch Eigenbrötler.
"Außerdem war ich tot! Das sollt' langen als Entschuldigung. Da braucht's keinen gelben Zettel nicht. Es waren doch genügend Leut da, frag doch die! Dann kannst mir auch einmal erzählen, wie's war."

"Ich will aber EIGENE Erinnerungen."
"Der 'ICH WILL' ist in Italien im Meer dersoffen."
"Hast ihn getroffen droben im Himmel?"
"Da bin ich nicht so oft. Da hat man kein' Ruh'. Hier drunten schon."

Er streicht mir zart die Haare aus der Stirn.

"Musst das wirklich wissen?" fragt er leise.

Nein, muss ich nicht.
Wir zwei haben unseren Ruh' miteinand', wie sich's für Eigenbrötler gehört.
Das reicht. Bis zum nächsten Advent?

Ciao, Ciao Bambina...






Herzliche Grüße,
Manuela 

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