Gummistiefel-Rollschuhlaufen

Über die Einschätzung von Gefahren in den 70ern und heute: ein "Scheiße, ich werd' alt"-Artikel


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Sandlöcher mit Wasser füllen ist sinnlos aber lustig.


Ein Sommertag in den späten 70ern

Am Bordstein sitzend puhle ich mir spitze Splittsteinchen aus der aufgeschürften Haut an meinen Knien. Wenn ich damit fertig bin, werde ich zu meinen Eltern gehen und mich mit Desinfektionsspray (höllisch brennend) respektive Sprühpflaster (höllisch brennend) versorgen lassen. Meine Gummistiefel warten derweil am Straßenrand - aufgeschnallt auf die verstellbaren Rollschuhe. Zugegebenermaßen eine total uncoole, aber vernünftige, einigermaßen funktionierende Kompromiss-Konstruktion. Jede Saison neue Rollerskates sind nicht drin. Meine Füße wachsen wie die Sau. Ich bin sieben Jahre alt.

Den restlichen Nachmittag verbringen wir Kinder auf der Straße mit unermüdlichen Versuchen, neuen Stürzen und scheppernd gefahrenen Bahnen. Die Erwachsenen sitzen auf der Terrasse, kaffeetrinkend. Wir Kinder melden uns schon, wenn was ist.

Später bekommen wir Nutellabrote serviert. "Nutella ist gesund!" heißt es in der Werbung. 

Natürlich ist mein Ziel, den Splitt und die Schwerkraft zu besiegen, so lang wie möglich eben nicht hinzufallen. Irrelevant! Diese eigentlich total bescheuerte Weise, sich mit an die Füße geschnallten Behelfsrädchen fortzubewegen, verspricht keinen "Erfolg" oder messbaren Vorteil, sie ist einfach nur lustig!

Dass wir damals weder Helm noch Knie-, Ellbogen- und Handgelenkschützer trugen und dennoch nicht gestorben sind, haben manche Eltern heute vergessen. Die Geschäftsgrundlage in "Was-Lustiges-aber-Sinnloses-Lernen" bestand in: sich eine provisorische Ausrüstung zusammenzubasteln, "einfach mal machen", sich Blessuren abholen, wieder aufstehen, mit der Zeit und unzähligen Versuchen besser werden. Auf seine Narben durfte man stolz sein!

Heute im Sommer 

eiern Fünfjährige auf teuren Präprofi-Inlinern durch die Gegend in einer einem Eishockeytorwart gebührenden Schutzausrüstung, flankiert von mindestens zwei Erwachsenen. (Ob auch "Eierbecher" bei den Jungs zum Einsatz kommen, konnte ich noch nicht verifizieren.) Fällt das Kerlchen doch mal hin, hat es wenig Chance, wieder selbststständig in die Aufrechte zu kommen: Zum einen behindern die zahlreichen Austattungsteile enorm seine Beweglichkeit, zum anderen kann er gar nicht so schnell schauen, wie ihn Mami und Papi wieder auf die Hinterpfoten wuchten. Dann werden Tränlein abgetupft, bevor das Plärren beginnen kann, coachend Fahrfehler reflektiert, Notfallglobuli verabreicht oder man fährt gleich in die Notaufnahme. Vielleicht lernt der Bub so schneller Rollschuhlaufen - sorry, skaten. Im technischen Sinne. Zur Not kann man ihn ja auch in einen Workshop oder Kurs stecken. Das Ziel erreichen! Erfolg haben!

Ich weiß, wie schwer die Vorstellung "zart-kindliche Schädelkalotte an Bordstein [verkeimt, kantig]" auszuhalten ist. Wie oft habe ich Blut und Wasser geschwitzt und mich dann auf meine Hände gesetzt, um nicht vorschnell einzugreifen.
Aber "Aufpassen, dass nix Schlimmes passiert, bei Bedarf eingreifen" und "für das Kind erledigen, dass nix Schlimmes passiert, ständig die Griffel am Nachwuchs" sind zwei paar Stiefel.

Spätestens in der Pubertät, wenn der oben beschriebene Kerl dann elternfrei unterwegs ist, wird er sich des Schutzpanzers eh entledigen. Dislike! Dummerweise hat er als handlicher, bodennaher Stöpsel nicht gelernt, wie verletzungsarmes Hinfallen geht. Für ein lang-schlaksiges Pubertier ist das bedeutend schwieriger. Drum wird er sich gleich ordentlich verletzen, wenn es ihn zwangsläufig mal semmelt.


Wie sollen denn die Kurzen so Frustrationstoleranz entwickeln? 

Zum Lernen gehören TUN, unzählige Wiederholungen, Scheitern, wieder aufstehen, aus Fehlern lernen, Variationen testen. Blut und Schweiß und Tränen. Fehlschläge aushalten. Und der Stolz zwischendurch, dass du ein Stückel weitergekommen bist. Der jubelnde Genuß, wenn es einfach "läuft". Zumindest für eine kurze Zeit. Du hast es selber geschafft!

Die Folgen sind verinnerlichte Disziplin und Frustrationstoleranz.

Sollen wir diese wertvollen Erfahrungen unseren Kindern echt vorenthalten?

Warum ist diese ernste Leichtigkeit, kombiniert mit Lust auf ein gewisses Risiko, welche die 70er würzte, so verblasst?

Scheiße, ich werd' alt! Wie vermisse ich diesen Zeitgeist, in dessen Echo Astor Piazzolla seinen "Libertango" herausbrachte und Erwachsene noch das Risiko eingingen, Achselhaar zu tragen. Mutig unperfekt waren. Als Kinder sich auf dem Spielplatz noch anhören durften: "Wo du rauf gekommen bist, wirst schon wieder runter kommen." Meiner Mama danke ich hiermit hochoffziell für die Erlaubnis, aus eigenen Fehlern lernen zu dürfen, Spaß zu haben: Dafür, dass sie mir eben keine total supercoolen Rollerskates gekauft hat und die pragmatische Versorgung mit dem höllisch brennenden Pflasterspray. Und den Eimer, um die Löcher im Sand mit Meerwasser zu füllen. Und Nutellabrot.




Blöd an der ganzen Geschichte ist, dass Kinder - respektive nachwachsende Tangogrünschnäbel - viel am Vorbild, genauer gesagt dem Verhalten der "Erwachsenen" lernen.

Die Tendenz, Neues ausschließlich in betreuter Umgebung zu lernen - z.B. nur im Kursbetrieb - vermittelt den Eindruck, sich Meisterschaft kaufen zu können. Hocheffizient?! Die ist dann zwar oft zertifiziert, schwimmt aber wie Fettaug' auf der Supp'. Sich die Sache zu eigen machen, zu integrieren, ist so schwer möglich und saust in der Prioritätenliste hurtig nach unten. Steinige Umwege, die dich zu Eigeninterpretationen inspirieren könnten, werden so ausgeschlossen. Zweifelos zeitsparend, wir sind ja alle sooo beschäftigt. Und Narben sind halt nicht so schön, gell? Das neu zu Lernende ist kein Spaß nicht! Eine ernste Sach'! Schau, dass du Leistung und Erfolg bringst! Schnell!

Einfach mal spielerisch, genießend etwas Zweckfreies lernen und doch beim Tun seine ganze Seele hineinlegen ist heute nicht mehr angesagt. Sich dafür über einen längeren Zeitraum dafür anstrengen? Unpopulär!

Das leben die adulten Exemplare ihrem Nachwuchs heute häufig vor. Und der übernimmt diese Haltung, die sich auch im Tango breiter macht, als für ihn gesund ist. Von denen, die weiter sind, abschauen, klauen, zur eigenen Person passend modifizieren, üben, üben, üben, viel mit vielen zu viel verschiedener Musik tanzen? Fehlanzeige! Das ist doch gefährlich! Dass du nicht stirbst, wenn du etwa beim Tango einen Fremden zu fremder Musik aufforderst, wirst du ohne die Gefahren der Auswilderung nicht lernen. Auch wenn du dir noch so viele Schrittkombinationen gekauft hast und die Códigos auswendig kannst.


Und was ist mit der Motivation, sich den ganzen Stress mit "Blut und Schweiß und Tränen" anzutun?


Vor ein paar Wochen fragte eine Milongabesucherin meinen Begleiter und mich, ab wann Tangotanzen uns denn Spaß gemacht habe.
Ich war echt perplex, stammelte was von "Schon immer, sonst hätt ich ja nie damit angefangen!" Mein Tangopartner war ähnlich verstört. Trotzdem bin ich dankbar für diese eigenartige Frage, weil sie den Unterschied zwischen damals und heute deutlich zeigt. Und dass ich mit meinen altmodischen, in den 70-ern pappenden Ansichten zum Erwerb zweckloser Tätigkeiten wohl den Anschluss ans Heute verpasst habe - staune ob der spaßfreien, verkopften Herangehensweise.

Pardon an alle mitlesenden Tangoneurotiker: Tangotanzen stellt keine die Menschheit rettende Überlebenskompetenz dar! Und dein Seelenheil suchst du besser woanders. Tangotanzen ist einfach nur schön. Reicht doch, oder?

Meine Gummistiefel-Rollschuhe haben ausgedient - sie wären beim Tango eine Themaverfehlung. Außerdem wachsen meine Füße nicht mehr. Aber die Narben am Knie erinnern gelegentlich, wenn die Ungeduld sticht, ans Hinfallen und Wiederaufstehen und Weitermachen. Einfach, weil's lustig ist. Heute tanze ich Tango und schreibe hier, ähnlich zweckfreie Tätigkeiten wie Rollschulaufen: schwitzend, ohne Helm und Schützer, sogar ohne ausgewiesene Tangoschuhe, ohne Zertifikat - aber umso lieber mit und für die anderen Freaks des Knienarbenclans.
Und du?

Außerdem hatten die Werbeleute damals doch recht, mit ihrer Behauptung Nutella sei gesund: die Ausschüttung von Glückshormonen findet unser Immunsystem prima. Dann kann es besser arbeiten. Gut, über den Nährwert der Inhaltsstoffe lässt sich streiten. Und die Dosis macht das Gift: von 2 Kilo Gläser konnte man träumen, aber selbige nicht kaufen.

Drum beantworte ich dir die obige Frage nach der Motivation mit einem lapidaren:

Weil du Lust drauf hast! 

Ansonsten: Lass es bleiben. Das wird nix.

Herzliche Grüße und bis bald,
Manuela Bößel

zum neuen Blog: www.tangofish.de

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