Hefezopf im Walzertakt
Über den Interpretationsspielraum von Rezepten und die ketzerische Frage, ob man beim Tangotanzen wirklich mitzählen muss
Tango in Prag bei Vollmond (Echt!) * Foto: M. Bößel * www.tangofish.de |
Die Geschichte vom Hefezopf aus der himmlischen Backstube
Kennst du das?
Du versuchst, einer Angehörigen der Generation Kittelschürz' das Rezept für deine Lieblingsspeise - z.B. den göttlichen Hefezopf - zu entlocken. Mit Notizblock und gespitzten Ohren bewaffnet, gerätst du aber bald an den Rand der Verzweiflung: Statt konkreter Grammangaben vermeldet die Geheimnisträgerin "einen guten Schuss davon", "ungefähr eine Handvoll jenes" und "mit der Butter brauchst nicht zu sparen", gekrönt von "wie's dir halt schmeckt". Fragen nach der Backzeit wehrt sie empört ab: "Das merkt man doch, wenn er fertig ist!"
Ich versichere dir, die einzige Methode diesen unvergleichlichen Geschmack selbst herzustellen, besteht nicht in der Auflistung der Zutaten und Kopierversuchen, sondern im wörtlich gemeinten Begreifen des haptischen, sinnlichen Prozesses: Nachfühlen.
Spüre, wie viel Raum Omas "Handvoll" einnimmt!
Lass dir die Hand führen beim "Schuss Wasser" zugeben!
Rühre eigenhändig in ihrem perfekten Teig, vor und nach dem Gehen!
Fühle die Konsistenz! Koste, schnuppere dich durch sämtliche Schritte!
Pieks' hinein in den fertigen Zopf, klopfe, horche, speichere das Geräusch ab.
Dann wissen deine Hände, Nase und Ohren, wie's sein soll.
Das Ergebnis beflügelt die Sinne: innen fluffig warm wie ein Plumeau und außen magisch knusper-krustig.
Dann schmeckt's lebendig!
Blümelige Gesänge unter'm Balkon bei Vollmond versus Robotermusik
Was unterscheidet eigentlich eine musikalische Interpretation, die dich kalt und angefadet lässt, von einer, die dich zu Tränen rührt? Dieses LIED, das du vielleicht nur anhörst, wenn du ganz alleine bist? Mit taschentuchiger Intention bei Mondenschein samt Herzerwärmung?
Würde ein Roboter dein Lieblingssentimentaltätsstück notenkorrekt abnudeln, wäre es zwar für's Großhirn richtig gespielt, aber irgendwie leer und tot.
Der spezielle Interpret, dessen Version du so gerne magst, spielt dieselbe Melodie im angegebenen Takt - allerdings nutzt er die Noten "nur" als Vorgabe und füllt das Stück mit Emotionen. Seinen, deinen, unseren, egal!
Das führt dann zwangsläufig zu minimalen Verzögerungen oder zusätzlichem Schwung in der Ausführung. Das können wir fühlen, aber kaum verstandesgesteuert hören. Sein Unbewusstes spricht direkt mit deinem: Emotionsaustausch ohne Umweg über's Großhirn. Notieren lässt sich diese Art zu spielen schwer.
Aber der der hohe Gänsehautfaktor triggert die Herzen an. Gelangt pulsierend in die Beine: Tanzlust auslösend. Mit und ohne Vollmond. Dann schmeckt's lebendig!
Ketzerische Frage
Kennst du das?
Du stehst mit einem Tanzpartner auf dem Parkett. Die ersten Takte flattern vorbei, gefolgt von seiner Frage "Vals oder Tango? Ist das jetzt ein Drei- oder Viervierteltakt? Oder eine Milonga?" Angstschweiß auf seiner Stirne, sein Finger zupft am Hemdkragen.
"Musst du das wissen?", strahle ich ihn an.
Großäugige Verwirrung.
"Egal! Tanz einfach!"
"Echt jetzt?"
Ein bissel ungläubig beginnt er. Und schlägt sich erst tapfer, dann richtig gut.
Ich freue mich diebisch darüber, einem weiteren Anfänger die Unschuld gelernter Kursschritte zu rauben. Wegen meiner Weigerung, ihm den momentanen Aufenthaltsort der Eins zu verraten, an die er sonst gerne Schrittfolgenmodul 1 (Vals) oder SFM 2 (Tango) wie beigebracht schraubt, ist er gezwungen, in die Musik einzutauchen: tiefer als knöcheltief - wie sonst - sich treiben zu lassen in den Klängen der Geigen und des Bandoneóns. Wohlig umspült von der Magie des Augenblicks und den in die Musik hineingewobenen Gefühlen.
Und dann fliegen wir tatsächlich! Getragen von der Stimme des dicken Mannes, der von der Sehnsucht und der Liebe singt. Mein "versauter" Anfänger scheint's zu genießen, sehr sogar.
Ohne Zählen, sogar ohne dem Großhirn zu erlauben, das Taktschema zu definieren.
"In der Liebe zählt ihr doch auch nicht!", verkündete Peter Ripotas Tangolehrerin.
Recht hat sie!
Dann schmeckt's lebendig!
Rezepte jeglicher Art
können gewiss hilfreich sein - ob Kochanleitung, Schrittfolgen oder Musiknoten - und Informationen vor dem Vergessen bewahren, um sie irgendwann wieder zu verwenden.
Solange die Aktivierung des konserviert eingekochten Wissens aber ausschließlich über das Großhirn erfolgt, bleiben Rezepte einfach dürre Knochen - leer und trocken. (Tot?)
Da nimmt dein Augenglitzern sein Lichtlein nicht in die Hand und zieht sich muffelnd die Decke über den Kopf.
Wie wäre es stattdessen,
- die korrekten Klackerknochen mit Blut und Schweiß und Tränen zu schmücken?
- mit Lachen zu süßen, das erlaubterweise am 3/4-Takt vorbei, gefühlt siebenachtelnd aus dem Herzen perlt?
- Leben einhauchen? Mit einem dicken Stück guter Butter?
- oder was immer dir Schabernackiges einfällt...
Das nährt Leib und Seele,
ganz lebendig halt!
Herzliche Grüße und bis bald,
Manuela Bößel
Hallo Manuela,
AntwortenLöschenDu hast das super beschrieben, einfach nur tanzen. Mit allen Sinnen, aber ohne Metronom.
Gestern war ich wieder auf einer wunderbaren Milonga. Wir tanzten zu Leonard Cohen & Co einfach so, ohne viel nachzudenken.
Servus aus Wien
Berni
Lieber Berni,
Löschendankeschön! War wahrscheinlich die Milonga von Alessandra und Peter, die sie bei facebook als Filmnachblick eingestellt haben.
Riecht auf jeden Fall nach Hefezopf ;)
Herzliche Grüße nach Wien, und nix vermiesen lassen, gell?
Manuela
Liebe Manuela,
AntwortenLöschenals einer Deiner „versauten Anfänger“ kann ich nur sagen, „Volltreffer“.
Danke, dass Du mich versaut hast und ich mit Dir fliegen durfte.
Schade, dass nicht jeder mit Dir fliegen kann.
LG Christoph
Lieber Christoph,
Löschenwar mir eine Ehre und ein Vergnügen obendrein! Und mit dem Fliegen müssen wir ja nicht aufhören, oder?
Aber jetzt bist DU dran, weil reif: Hiermit überreiche ich dir offiziell den Freischein zum "Anfänger versauen".
Viel Vergnügen und herzliche Grüße,
Manuela
Ahhh, keine anonymen Komentare.
AntwortenLöschenBerni ist bernhard.mairinger@mairinger.net
Servus, Berni
Danke!
LöschenDeine schöne Beschreibung der verschiedenen Hirnregionen erinnert mich an einen biologischen Vortrag des französischen Komikers Alfons (mit französischem Akzent zu lesen): Meine Damen und Herren, es gibt drei Hirnregionen: das Großhirn ("Neocortex") fürs Denken, das Mittelhirn ("limbisches System") für die Gefühle, das Stammhirn für essen, schlafen und bumsen. Stellen Sie sich vor, ich erblicke eine schöne Frau. Das Stammhirn sagt sofort: Ich möchte mit ihr, wie sagt ihr Deutschen so schön? den Beischlaf vollziehen. Das Mittelhirn sagt: Au ja, da mach ich mit, aber nur mit Romantik: schöne Musik, Kerzenschein, Rotwein. Das Großhirn aber sagt: Hier auf der Bühne, vor allen Leuten? Ohne mich!
AntwortenLöschenLieber Peter,
LöschenDank schön für die schöne Geschichte! Dass die verschiedenen Fraktionen sich grad beim Tango (wie beschrieben) uneinig sind, wundert nicht.
Herzliche Grüße,
Manuela
Hi Manu,
AntwortenLöschenschön beschrieben, aber leider gibts auch ne Kehrseite: mit dem tollen Improvisieren klappts besser, wenn man vorher die "Basics" geübt hat, bis sie zu den Ohren (oder so) rauskommen.
Leider ist das "vorher üben" heutzutage total unmodern.
Aber man muss wissen, wie man den Teig fluffig bekommt, wenn ers mal nicht von vorneherein schon ist (und das lernt man, wenn man sich vorher oft genug an die genauen Rezepte der Meister gehalten hat), man muss seine Tonleitern und die beabsichtigte Stilistik können, wenn man toll auf seinem Instrument improvisieren will, man muss vorher Grammatik und Aussprache geübt haben, wenn man eine mitreissende Rede frei halten will. usw. usf.
Regeln sind dazu da, um den Anfänger anzuleiten, und dann vom Meister (aber eben auch erst, wenn man wirklich Meister geworden ist) ignoriert zu werden ;-)
Ciao, Robert
(der leider schon oft genug die Geduld NICHT hatte, zuerst die Basics zu lernen und zu üben ...)
Lieber Robert,
AntwortenLöschennatürlich: die Beherrschung des Handwerks ist die Basis. Unzählige Wiederholungen sind da auszuführen, nachjustieren, Fortschritte, Rückschritte, Disziplin, Blut und Schweiß und Tränen...
Und ja, ich weiß, das ist heute nicht mehr so populär.
Um "Meisterschaft" in ferner Zukunft zu erlangen, darf man seinen A... schon hochkriegen.
Mir geht es im Artikel aber (auch) darum, solche Fragen in den Ring zu werfen für Eigenverantwortung und die Freude beim Lernen:
Welche Regeln sind sinnvoll, welche befolge ich?
Wer ist ein "Meister"?
Worin liegt denn genau seine Meisterschaft? Mit welchen Methoden arbeitet er?
Passen die für den Lernenden?
Bringen sie ihn in seiner individuellen Entwicklung weiter? Oder halten sie ihn "klein"?
Wer darf bestimmen, wann der junge Padawan reif ist, was und in welcher Form er ausprobieren darf? Darf der nicht selber mal auf die Schnauze fallen und merken: "Okay, das Lichtschwert muss ich noch schneller ziehen können, sonst tot. Jetzt nicht, weil im letzten Kampf Glück gehabt? Also ÜBEN!"?
Das Üben der "Basics" kann darin bestehen, 87 Hefezöpfe zu versemmeln, bis man selber den richtigen Dreh raus hat. Die Meisterin wäre in diesem Fall die Dame im Kittelschürz'. Oder Wiederholspielungen eines Musikstück im 5-stelligen Bereich, bis es wie Musik klingt.
Bei den Musikern, die ich im Text meine, geht es um die, die nicht mehr auf dem Klavier die Tasten abzählen müssen, um einen Ton zu treffen. Würde dich ein schlampig hingeklimpertes Musikstück anrühren? Improvisation und Schlamperei sind verschiedene Baustellen ;)
Aber worin bestehen die "Basics" beim TANGO tanzen?
In der Basse? In bestimmten Schrittfolgen oder in einem grundlegenden "Das eigene Gestell angstfrei-entspannt, vielleicht sogar elegant" bewegen zu können? Ich meine im letzgenannten ;) und klar muss man das üben - im Alltag und beim Tanzen. Üben ist beim und im TUN (!) langsam a bissele besser werden. Stückle für Stückle.
Das Üben an sich ist erfahrungsgemäß in einer angstfreien Umgebung wesentlich effektiver. Das ist meine Motivation beim "Anfänger versauen".
Herzliche Grüße,
Manuela